Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
ihre eigene Erfüllung gefunden haben, sind nicht genötigt, sich gegen alles Geschaffene, das ihnen in ihrer Zeit begegnet, aus Notwehr zu behaupten.
Kritik am Artistischen, glaube ich, ist meistens eine Ausrede. Es gibt ganz wenige, deren Unbehagen wirklich aus dem Artistischen kommt. Es zeigt sich schon daran, daß die gleichen Leute, wenn unsere Aussage eine angenehme, eine harmlose oder gar schmeichelhafte ist, dem gleichen Verfasser gegenüber kaum ein Bedürfnis haben, das Artistische zu erörtern. Das Stück, dessenAussage ihnen genehm ist, bezeichnen sie stets als das bessere, das weitaus bessere.
Man müßte, um das Unbequeme sagen zu können, ein vollendeter Artist sein – damit sie für ihren Zorn keinen Ausweg haben.
Kritik am Artistischen.
Jemand sagt mir, daß ich an meinem Nachbarn ein arges Unrecht begangen habe, und ich sage: Herr, Sie haben ja eine Zahnlücke! und wenn er keine Zahnlücke hat, finde ich vielleicht, um den Unbequemen nicht anhören zu müssen, einen offenen Hosenknopf. Herr, sage ich, Sie haben ja einen offenen Hosenknopf. Und wenn er den offenen Hosenknopf geschlossen hat? Dann sage ich: Herr, ich glaube, Sie stinken nach Tabak, und das vertrage ich nicht, mir ist ganz übel. Und wenn er eines Tages wiederkommt und er stinkt nicht mehr nach Tabak, denn vielleicht hat er überhaupt nicht gestunken, und er fährt fort, mein Unrecht zu schildern? Dann sage ich: Herr, Sie reden ja immer das gleiche, das ist langweilig, das wissen wir nun nachgerade …
Lob und Tadel –
Mit einem Lob, das uns verfehlt oder gar läppisch erscheint, müssen wir uns nicht auseinandersetzen; darüber kann man rasch hinweggehen, und man tut es auch. Über einen Tadel hinweggehen, weil er uns verfehlt oder gar läppisch erscheint, das ist nicht so einfach, das hat stets etwas Verdächtiges. Der Tadel bleibt kleben.
Unter Umständen müßte es heißen: Was der Soundso erstrebt, halte ich für einen argen Irrtum, jedoch verwirklicht er sein Streben in hohem Maß. Statt dessen heißt es: Der Soundso ist nicht imstande, ein wirkliches Stück zu schreiben. Ein wirkliches Stück, das ist ein Stück, wie der Kritiker es für erstrebenswert hält. Rezensionen dieses Musters, und es gibt davon nicht wenige, sind nicht böse, aber unergiebig.
Ein Schauspieler gibt den Romeo, und eine Rezensentin, die der liebe Gott nun einmal als Lesbierin gewollt hat, schreibt darüber in der Zeitung. Sie kann schreiben: Zum Romeo des Herrn Sternenhagel finde ich keine Beziehung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sie schreibt aber nicht so, sondern unpersönlicher, unbedingter: Dem Romeo hingegen (hingegen) fehlt jede männliche Ausstrahlung –.
Will sagen: Es ist das heilige Recht jedes Rezensenten, seine Empfindungen auszudrücken. Unser Recht ist es, sie nur als die seinen anzuerkennen – was übrigens alles andere als ein Trost ist! In gewissen Augenblicken, nicht in selbstgewissen, aber in mutigen oder verzweifelten Augenblicken sehnte man sich danach, sich einem unbedingten Maßstab unterziehen zu können.
Kritik der Schaffenden? Die Schaffenden, denke ich, sind besonders befangen, aber ihr Urteil hat einen kostbaren Vorzug: wir kennen die Art ihrer besonderen Befangenheit, ausgedrückt in ihrem Werk, und vor allem hat ihr Urteil immer etwas Geschwisterliches. Es drängt uns niemals in den Sumpf der Selbstgerechtigkeit, was den Rezensenten so leicht gelingt.
Goethe sagt, man solle nicht antworten, er sagt nicht, man solle nicht hinhören. Vielleicht ist es nötig, daß man sich zwei oder drei Wochen lang in Ärger badet, und wäre es auch nur zum Zweck, wieder einmal zu erfahren, wie es mit unsrer Abgeklärtheit steht. Die Kritik, die hilft, kommt von vier oder fünf Menschen; darunter sind Nächste und ganz Ferne, Unbekannte, die keine Ahnung haben, wie förderlich sie gewesen sind. Ähnlich wie die Kritik der Schaffenden, finde ich, ist die Kritik kluger, unliterarischer Frauen; persönlich, entschieden, geschwisterlich. Die Kritik, die hilft: sie hilft, keine Zeit zu verlieren, sie beschleunigt die Selbstkritik, die einzige, die für das Weitere anwendbar ist.
Basel, Fastnacht 1949
Morgenstreich: – wie die bunten, riesenhaften, immer ein wenig wankenden Laternen auf den Marktplatz kommen, aus allen Gassen hört man das Getrommel der Larven, urwaldhaft, ihr Getrommel hat etwas Gestautes, etwas Gestottertes, es zittern die Fensterscheiben und kichern, die Luft ist wie zerrissen
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