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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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von der monotonen Schrille der Pfeifer, und dann sind sie da, Kohorten von übermenschlichen Larven, Vögel, Kobolde, Kohlköpfe, immer eine Gruppe, alle mit einer schrägen Pfeife am Mund, so daß die ganze Gruppe immer auch eine gleiche Haltung hat, ungeheuerlich gerade durch das Mehrfache, das Uniforme, der Dämon nicht als Individuum, sondern als Rasse …
    Abends auf einem Maskenball.
    Das Ganze, seines Ruhmes würdig, erinnert an eine Sitte, die es in China geben soll: einmal im Jahr kommt die ganze Sippe zusammen, setzt sich im Kreis, alle verstopfen sich die Ohren mit Lehm, dann sagen sie einander die Wahrheit, das heißt, sie sagen einander alle Erdenschande, verspotten, verfluchen, verhöhnen einander, bis sie keuchen, jeder gesteht seine Ehebrüche, seine Geschäfte, seine Listen, seine Süchte, seine Ängste, gesteht und schreit, bis er heiser ist – und dann, wenn keiner mehr kann, polken sie den Lehm aus den Ohren, lächeln, verbeugen sich zierlich, begleiten einander nach Hause, laden sich gegenseitig zum Tee und leben wieder ein Jahr lang zusammen, wie es sich gehört, friedlich, höflich und gesittet …

Stuttgart, 29. 4. 1949
    »Die Schweiz in Stuttgart«, eine Woche schweizerischer Veranstaltungen aus mehreren Gebieten der Kunst, Theater, Konzerte, Ausstellungen, Vorträge usw.
    »Kultur.«
    Zum Glück wird das Wort ziemlich vermieden, man beschränkt sich auf saubere Begriffe wie Musik, Malerei, Literatur,Architektur; das immer etwas Rührende und Komische solcher Veranstaltungen, die an den Sonntagsspaziergang eines stolzen Vaters erinnern: Seht, das sind unsere musikalischen Kinder, Othmar Schoeck, Frank Martin, Willi Burckhardt, Arthur Honegger …
     
    Gastspiel des Zürcher Schauspielhauses: »Als der Krieg zu Ende war.« Ein eisiges Schweigen zu Anfang, wir haben mit einem Skandal gerechnet und sind vom Gegenteil überrascht, Gespräche mit vielen Menschen, wertvoll vor allem das leider unterbrochene Gespräch mit einer jungen Frau, die selber die Russenzeit sehr persönlich erlebt hat – auch bei Zustimmung bleibt das Grundsätzliche: wenn der Schreiber eines historischen Stückes in die Lage kommt, denen gegenüberzutreten, die damals gelebt haben, beispielsweise, wenn ein Romancier, der sein Anliegen etwa in den Dreißigjährigen Krieg verlegt hat, sich verantworten müßte vor den schwedischen Offizieren, von denen er einen geschildert hat, und zugleich vor den böhmischen Frauen, vor dem Spanischen Hof, vor den niederländischen Bürgern, vor den deutschen Bauern, vor den Geräderten, vor den Verhungerten, vor den Gehenkten und vor den Henkern, die beide dabei gewesen sind und sich schon untereinander auf eine Darstellung des Gewesenen kaum einigen können, grundsätzlich wird es immer die gleiche Frage sein, nämlich woher der Dichter eigentlich das Recht nimmt, zu dichten. Er nimmt es daraus, daß er ein Dichter ist. Aber wenn er das nicht ist oder nicht genug? Dann werden sie mit Recht sich über ihn werfen, die böhmischen Frauen, die schwedischen Offiziere, die niederländischen Bürger, die spanischen Henker; dann mit Recht …
    Nacht in Gesellschaft.
    Morgenfrühe in einem hohen Wald, Stämme und junges Grün, Glanz der ersten Sonne, ihr gleitendes Glitzern in den Spinnweben, Vogelzwitschern, Duft von Knospen, das Gras voll Tau, die Luft ist kühl, Brunnenwasser, Bienen um blühende Zweige, Sonntag, Gebrumm eines fernen Geläutes, dann die ersten Morgengänger, die mit der Straßenbahn auf die Höhe gefahren sind,sich mit höflicher Zurückhaltung etwas verwundern über meinen schwarzen Anzug und die Lackschuhe und all das ohne Mantel, ohne Hut; endlich die Auskunft, daß die Stadt Stuttgart, deren Gast ich mich nennen darf, gerade in der entgegengesetzten Richtung liege –.

Letzigraben
    Es geht dem Ende zu! … Die Möbel, die Vorhänge, die Blumen, die Schriften, die Goldfische. Überall kommen jetzt die letzten Verzweigungen in die reine Zierde. Die Leute, die es machen müssen, sind von einer guten Laune erfaßt; Witze, gute und schlechte. Die Frau des Hauswartes wünscht Blumenkisten vor den Fenstern. Es sei! Heute habe ich unter einem sachlichen Vorwand veranlaßt, daß zum ersten Male die große Fahne aufgezogen worden ist – sie flattert noch jetzt in einem leichten Wind, und die Kinder der Nachbarschaft scharen sich natürlich um den flachen Springbrunnen, dessen Strahl etwas schmächtig ist. Am Feierabend, wenn unsere Arbeiter mit ihrem leeren Rucksäcklein sich

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