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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Freundschaft. Nie wird ers übelnehmen, wenn ich ein offnes Wort sage!«
    »Sag es!« befiehlt Gottlieb.
    »Natürlich sag ich es –«
    »Sag es!«
    »Und ihr werdet sehen, wie er es aufnimmt! Wie nur ein Herzensjunge es aufnimmt. Und wenn er Kaiser von Europa wäre, ich sag es rundheraus: –«
    »Sag es!«
    »Gottlieb – sage ich – Gottlieb, deine Forelle wird kalt.«
    Jetzt nach einem versichernden Blick von Gast zu Gast, lachen sie alle, platzen vor Lachen, bis Gottlieb, rot wie ein Krebs, seinen Teller auf die Tafel schmettert, daß es klirrt.
    »Gesindel«, schreit er: »hinterhältiges Gesindel – Ihr, ja, ihr!… Ich werde euch das Lachen schon austreiben, verlaßt euch drauf, ihr Bande, ihr Verräter –!«
    Natürlich hat keiner widersprochen, in der Tat, man hat ja nur so geplaudert. Umsonst hat Jenny versucht, ihn von der Unterschrift abzuhalten. Aber schon hat er sie gemacht: auf eine Serviette. Man soll im Jähzorn nie eine Unterschrift geben; Gottlieb weiß es, er meint es auch nur als Drohung; aber die Unterschrift ist gemacht, und er muß die Serviette nur noch in die Luft werfen, damit es sich erfüllt. So steht er da, die Serviette in der Hand, grimmig wie ein verwundetes Tier:
    »Ihr glaubt, daß ich euch glaube – wo ich weiß, wie ihr lügt; wo ich es rieche – wie ihr lügt – rieche, wie ihr alle es riecht – Da!« sagt er und reißt den Vorhang auseinander: »Bitte.«
    »Oh –.«
    »Bitte.«
    In der Tat, da sitzt nun die Leiche des chinesischen Mandarin, den die erste Unterschrift getroffen hat, ein Wicht aus lauter Fett und Falten, die Augen verschwinden fast unter den Wulsten, ein widerlicher Anblick, selbst wenn er nicht stinken würde.
    »Bitte«, sagt Gottlieb mit der teuflischen Serviette in der Hand: »wer von meinen lieben Freunden und Gästen wagt zu behaupten, er habe in meinem Haus eine Leiche gesehen?«
    Schweigen.
    »Keiner?« lacht Gottlieb: »Keiner?«
    Kommt der Harlekin mit einem Buch, das in Rindsleder gebunden ist, eine Art von Gästebuch, das er aufschlägt und mit graziöser Würde auf den Tisch legt, höflich, nicht gebieterisch, beflissen, aber auf weltmännisch-verhaltene Weise:
    »Die verehrten Freunde und Gäste werden gebeten, hier zu unterzeichnen! Daß sie nichts von einer Leiche bemerkt haben. Auch hinter den Vorhängen nichts«, erläutert der Harlekin, fügt mit lässiger Stimme auch das Allzubekannte hinzu, ordnungshalber: »Wer widerspricht, ist tot. Wer unterschreibt, ist frei.«
    Schweigen.
    »Herr Doktor?« sagt Gottlieb.
    Knacks, der Doktor, nimmt langsam seine Füllfeder; er ist kein Träumer mehr, kennt die Historie, die Praxis, die Literatur, weiß, daß wir dem Greuel nicht mit eigner Tat begegnen können, sondern einzig und allein mit Vertrauen in die Metaphysik. Das heißt: er unterschreibt.
    »Schopf?« sagt Gottlieb etwas banger.
    Schopf, der Bäckermeister, hat keine Füllfeder, aber er braucht sie auch nicht; er nimmt das Buch, betrachtet es kurz, dann zerreißt er es, was nicht ohne weiteres gelingt, aber mit Wut geht es dann doch –
    »Was schon«, sagt Schopf: »Du hast wohl den Verstand verloren, Gottlieb, das ist doch nicht dein Ernst. Wenn man die Leiche mit eignen Augen sieht –«
    »Du willst nicht unterschreiben?«
    »Das ist doch Quatsch –«
    »Ja oder nein.«
    »Gottlieb, wir sind doch Freunde –«
    »Das eben ist die Frage!«
    »Aber das heißt doch nicht, daß ich dir recht gebe, wenn du Unrecht tust –«
    »Ich kann dich töten, Schopf.«
    »Das tust du nicht.«
    »Woher weißt du das?« schreit Gottlieb.
    »Mensch! wenn man einmal mächtig ist, gewinnt man keine Freunde mehr. Das kannst du dir doch an den Fingern abzählen. Wer sich fürchtet vor dir, das ist doch eine alte Geschichte – Gottlieb, du bist auf der schiefen Ebene …«
    Eine Weile hört Gottlieb sich alles an, die Serviette in der Hand, wünschend, es wäre nichts als eine Serviette. Schopf meint es nicht schlecht, das spürt auch Gottlieb; aber was hilft ihm das – jetzt, wo es schon einmal so weit ist – was hilft ihm das: Du sollst nicht, du hättest nicht dürfen! Es braucht kein Schopf zu kommen, um ihm das zu sagen.
    »Schweig«, sagt Gottlieb.
    »So ist es aber –.«
    »Schweig«, sagt Gottlieb: »Oder du bist auf der Stelle tot.«
    »Dann bist du erst recht ein Mörder –«
    »Schweig! sage ich.«
    Schopf schweigt, nicht ohne die andern anzublicken, achselzuckend. Auch wenn sie seinen Blick nicht erwidert haben, sondern beharrlich den

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