Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
…«
    Sie auf das Bett legen, was natürlich das vernünftigste wäre, das kann er leider nicht; auf dem Bett befindet sich ja die Leiche des chinesischen Mandarin. Wenigstens ist der Vorhang gezogen.Jenny liegt auch in seinem Arm nicht übel; ihr Gottlieb ist ein Könner im Zärtlichen, sonst wäre sie nicht sieben Wochen bei Gottlieb verblieben, der mit seinem Lohn gerade die Forderung des Tages erfüllen kann, Miete, Pension, Altersversicherung, Zigaretten, Zahnarzt, Straßenbahn, Kino, aber nicht viel mehr. Jennylein liebt ihn aus purer Liebe, kein Zweifel, und das ist etwas Schönes. Ein Könner im Zärtlichen: auch jetzt küßt er immerzu ihre Augen, damit sie nicht sieht, wo sie sich befinden. Unterdessen erzählt Jenny, was sie Gräßliches geträumt habe: – Montag, Gottlieb in einem Frack, Gesellschaft, eine Leiche im Bett, anzusehen wie Tschau Hing, der dickste Mann der Welt – und so …
    »Wie bin ich froh«, sagt Jenny: »daß alles nur ein Traum gewesen ist.«
    Aber gelegentlich, obzwar Gottlieb alle verfüglichen Kosungen einsetzt, bemerkt sie natürlich doch, daß er wirklich einen Frack trägt, ein weißes steifes Hemd, Perlenknöpfe, und daß auch sie, die Jenny vom Fischmarkt, in eine Robe gehüllt ist, in ein Vermögen aus Seide, eine Robe, die ihr bisher nur in Filmen vorgekommen ist. Es ist kein Traum. Jennylein sieht es im Spiegel: eine Dame. Einen Augenblick lang, gewiß, findet sie es toll, dreht sich vor dem großen Spiegel, um mit wachsendem Entsetzen zu begreifen, daß sie das selber ist. Sie rührt sich nicht mehr.
    »Eine Dame –.«
    »Jennylein«, tröstet Gottlieb.
    »Eine Dame –.«
    Dann, und ihr Schrecken hat wiederum ein durchaus antikes Format, starrt sie auf den befrackten Gottlieb:
    »Was hast du aus mir gemacht –?«
     
    Der Harlekin ist wieder da, meldet, daß die Leutchen, wie er sie nennt, sogleich zum Essen erscheinen werden. Ferner bringt er ein Pergament, das er mit ironisch-feierlicher Pose entrollt, ein echtes Pergament voll baumelnder Siegel; die Universität, obzwar noch in keiner Weise bedroht, hat das Bedürfnis, Gottlieb Knoll zum Ehrendoktor zu machen.
    »Wie komme ich dazu?« sagt Gottlieb.
    »Das ist hier nicht die Frage.«
    »Sondern?«
    »Wie kommt die Universität dazu –.«
    Gottlieb hält das Pergament, hilflos.
    »Was soll ich tun?« fragt er.
    »Stifte etwas.«
    »Was?«
    »Die Leiche«, meint der Harlekin: »Für das völkerkundliche Museum, das könnte für unsere Studenten ganz aufschlußreich sein –«
    »Leiche?« fragt Jenny: »Leiche?«
    Ein Blick von Gottlieb, und der Harlekin versteht. Die Dame hat sich offensichtlich noch nicht an ihren Stand gewöhnt, kommt aus kleinen Verhältnissen. Kommt Zeit, kommt Zynismus! Ein weiteres Schreiben, das der Harlekin vorzulegen hat, ist eine Huldigungsadresse der führenden Schriftsteller, ein Beitrag zum Verhältnis von Stil und Charakter; ihre Huldigung besteht darin, daß sie alles, was jetzt geschehen mag, als Befreiung bezeichnen. Gottlieb weiß wirklich nicht, was er glauben soll. Der Harlekin hält solche Huldigungen, selbst gelogene, nicht für wertlos; es sind Schecks, ausgestellt von Schwindlern, aber ausgestellt auf Kosten von hunderttausend Gläubigen, die eines Tages dafür zahlen werden. Im übrigen: Wer öffentlich lügt, den schont man nicht, auch wenn er heimlich die Wahrheit spricht … Aber davon mag Gottlieb jetzt nichts hören.
    »Davon später«, sagt er knapp.
    Und dann, siehe da, kommen sie wirklich, die Freunde, die Getreuen, die lieber mit Gottlieb an einem Tisch sitzen, als daß sie auf die Galeere wandern – als erster verbeugt sich Knacks, der Doktor, der es aus besseren Tagen noch weiß, wie man sich in besseren Häusern benimmt; er ist, seiner Verantwortung als Gebildeter bewußt, vorangegangen, gefolgt von den Verschüchterten. Sogar Schopf, der Bäckermeister, und auch Zapf, der Schulgenosse, auch sie versuchen sich in einer kleinen Verbeugung, nicht ohne nach dem Harlekin zu schielen.
    »Nehmt Platz«, sagt Gottlieb so leutselig als möglich: »Nehmt Platz!«
    Die Suppe ist natürlich kalt, man geht jetzt an den zweiten Gang, Forelle blau, sie stecken sich die Serviette in den Kragen, und der Harlekin macht bereits den Mundschenk, Johannisberger, alles wie versprochen. Gottlieb fragt:
    »Wo bleibt unser Ringer?«
    Schweigen.
    »Meine Lieben«, sagt Gottlieb: »Ihr habt mich vorher im Stich gelassen, aber jetzt seid ihr ja wieder gekommen. Strich darunter! Ich trage

Weitere Kostenlose Bücher