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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Anzahl, also mit einer Größe, deren auch die Schafe und die Läuse sich rühmen könnten; doch wo man eine wirkliche Persönlichkeit trifft, ist sie freier als im kleinen Land, unverkürzt, unverstümmelt, unverklemmt, bei gleicher Anlage hat sie meistens eine reichere Entfaltung; überall spürt man den größeren Spielraum – auch im Erfreulichen.
     
    Man badet hier ohne alles, und das ist herrlich, man verwundert sich höchstens, wie selbstverständlich es ist. Heute liegen wir in einer Gruppe, es kommt ein junges Paar, beide im Badkleid, Bekannte, und als sie uns auf dreißig Schritte erkennen, bleiben sie stehen, machen das einzig Geziemende, streifen ihr Badzeug herunter, nehmen es in die linke Hand und kommen zur Begrüßung –.
     
    Beim Lesen:
    Es gibt immer weniger Werke, die wir wirklich bewundern können, aber die wirkliche Bewunderung wird immer größer, jelänger wir uns selbst versucht haben. Bewunderung: Das könnte mir nie gelingen, und wenn ich siebenmal leben dürfte. Und vor allem, scheint mir, schärft sich der Unterschied zwischen Bewunderung und Achtung; ein Unterschied ohne Übergang. Achtung nenne ich es, wenn der andere, den ich lese, zwar weiter gekommen ist als ich, aber er geht auf der gleichen Ebene, ich werde ihn nicht mehr erreichen, aber es ist nicht unerreichbar von vornherein, er hat im wesentlichen keine anderen Mittel als ich, vielleicht hat er mehr davon, vielleicht nutzt er sie glücklicher, sein Vorsprung sei nicht geleugnet, aber sein Gelingen liegt nicht jenseits meines Begreifens. Das ist die große Mehrzahl der Schriftsteller und Dichter, die man achtet, zuweilen auch beneidet, etwa wie Sportler einander achten oder beneiden, wenn sie unterliegen – Dann aber, und das ist das Erlösende der wirklichen Bewunderung, gibt es solche, die uns von jedem Vergleiche befreien; der Unterschied ist unerbittlich klar: wir gehen – er fliegt …
    (Trakl zum Beispiel.)
    Von den Fliegenden, denke ich, kann der Fußgänger wenig lernen, was für ihn nicht eine Pose bliebe.
     
    Wanderung nach Keitum. Die ersten Bäume seit Wochen; was wir Landschaft nennen: das grüne Vergessen, daß wir auf einem Gestirn wohnen. Draußen auf den Dünen vergißt man es keinen Augenblick.
    Fragwürdig wie alles, was wir treiben, ist auch die Selbstkritik. Ihre Wonne besteht darin, daß ich mich scheinbar über meine Mängel erhebe, indem ich sie ausspreche und ihnen dadurch das Entsetzliche nehme, das zur Veränderung zwingen würde – das Entsetzliche, das mich doch jedesmal wieder einholt, wenn ein andrer sie ausspricht.
     
    Eine Dame mit weißem Haar, namhafte Schauspielerin zu ihrer Zeit, umjubelt in Wien und Berlin, jetzt sitzt sie am Fenster und strickt; ich frage:
    »Sie haben auch Kainz gekannt?«
    »O ja.«
    »Sie haben mit ihm gearbeitet?«
    »O ja.«
    Eine Weile schweigt sie, weiterstrickend, unschlüsssig, ob sie ihr Leben erzählen mag oder nicht. Jedenfalls hat sie keine Lust, Brosamen zu geben. Nach einer Weile, als ich mich innerlich schon auf den Weg mache, läßt sie die Strickerei doch plötzlich sinken, zum Erzählen entschlossen, aber so, wie es sich für ein erfülltes Leben geziemt: von Anfang bis Ende, gelassen, nicht weitschweifig, aber in einem großen Bogen – und die Stunden vergehen im Nu …
    »Das war mein erster Erfolg«, sagt sie, nachdem sie auch das Kostüm, das sie damals getragen, mit inniger Akkuratesse beschrieben und dann mit einem lächelnden Schweigen sozusagen verabschiedet hat: »Am andern Tag meldete sich ein Herr von Hofmannsthal. Was will der? sagte ich, ich war siebzehn Jahre, ein dummes Ding, ich wußte soviel wie nichts. Später war ich oft in Rodaun, er zeigte mir ein Stück, dessen Titelrolle ich spielen sollte. Er saß am Schreibtisch, seine Frau stand in der Ecke, und ich mußte vorlesen. Er wollte es immer wieder hören. Er selber war ja ein Lispler, er schlug mit der Zunge an; wenn er sprach, hatte ich immer das Gefühl, er sabbert. Kurzum, ich sollte also die Elektra spielen. Ich glaube übrigens, er mochte mich sehr, etwas zu sehr. Ich dachte immer: Was will dieser alte Herr von mir! Damals war er knapp über dreißig. Sein Schnurrbart erinnerte mich immer an Seehunde. Später habe ich viele Briefe von ihm bekommen, leider sind sie in Düsseldorf alle verbrannt –.«
     
    Über Wedekind:
    »Ein schlechter Darsteller seiner eignen Werke, aber unvergleichlich als Bänkelsänger. Sein Doktor Schön, ich sage Ihnen: unmöglich. Sein Marquis

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