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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Flügel hinausgehen kann. Man sieht das saubere Muster seiner Nieten. Ein regloses Rohr, das vermutlich als Auspuff dient, die blechernen Laschen, die frische Luft fangen, alles ist so, wie man es im Hangar sehen kann; ohne Bezug auf den Augenblick und auf den Ort, wo es sich befindet; es erfüllt eine errechnete Pflicht, ob es im Windkanal oder über dem Titlis ist; ich sage mir selber: Das ist doch selbstverständlich. Was soll dieses geschwungene Blech schon machen? Dennoch blicke ich immer wieder darauf; die Ruhe des Gegenstandes hat etwas Aufreizendes. Der Gedanke, im Fallschirmabzuspringen, ergibt sich ohne jeden Aufwand an Mut; so gänzlich ist man schon aus dem menschlichen Maßstab gelöst –
    Es ist herrlich!
    Aber etwas bleibt luziferisch.
    Über einem Städtchen, das wie unsere architektonischen Modelle anzusehen ist, entdecke ich unwillkürlich, daß ich durchaus imstande wäre, Bomben abzuwerfen. Es braucht nicht einmal eine vaterländische Wut, nicht einmal eine jahrelange Verhetzung; es genügt ein Bahnhöflein, eine Fabrik mit vielen Schloten, ein Dampferchen am Steg; es juckt einen, eine Reihe von schwarzen und braunen Fontänen hineinzustreuen, und schon ist man weg; man sieht, wie sich das Dampferchen zur Seite legt, die Straße ist wie ein Ameisenhaufen, wenn man mit einem Zweiglein hineinsticht, und vielleicht sieht man auch noch die Schlote, wie sie gerade ins Knie brechen und in eine Staubwolke versinken; man sieht kein Blut, hört kein Röcheln, alles ganz sauber, alles aus einem ganz unmenschlichen Abstand, fast lustig. Nicht ohne eigene Gefahr; das meine ich nicht, daß es harmlos sei; ich denke auch die weißen Wölkchen, die jetzt ringsum aufplatzen, eine Staffel von Jägern, die hinter uns auftauchen und größer werden mit jedem Atemzug, lautlos, dann das erste Splittern in einer Scheibe, ein Gejaul wie in den Scheibenständen, verfolgt von einem verspäteten und verwehten Geratter. Das alles inbegriffen! Ich meine nur den Unterschied, der darin besteht, ob ich Bomben streue auf ein solches Modell, das da unter den jagenden Wolken liegt, halb rührend, halb langweilig und kleinlich, oder ob ich ebenfalls dort unten stehe, mein Sackmesser öffne und auf einen Menschen zugehe, einen einzigen, dessen Gesicht ich sehen werde, beispielsweise auf einen Mann, der gerade Mist verzettelt, oder auf eine Frau, die strickt, oder auf ein Kind, das barfuß in einem Tümpel steht und heult, weil sein papiernes Schifflein nicht mehr schwimmt. Das letztere kann ich mir nicht zutrauen. Beim ersteren, das ist der Unterschied, bin ich durchaus nicht sicher.
     
    Im Egmont gibt es eine Stelle, wo die biederen Bürger über ihren Helden und Liebling sprechen, der sie eben auf der Straße verlassen hat.
    »Ein schöner Herr!«
    Und unwillkürlich sagt einer:
    »Sein Hals wäre ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter –.«
    »Bist du toll? was kommt dir ein?«
    »Dumm genug«, murmelt er: »daß einem so etwas einfällt. Es ist mir nun so. Wenn die Burschen schwimmen, und ich seh einen nackten Buckel, gleich fallen sie mir zu Dutzenden ein, die ich habe mit Ruten streichen sehn. Die verfluchten Exekutionen! man kriegt sie nicht aus dem Sinn.«
     
    Das verlorene Raumgefühl in der Kurve: man empfindet sich, da die Schwerkraft uns gewissermaßen an die Schwungkraft verliert, immerfort in der gleichen Lage, und scheinbar ist es die Erde, die auf der Waage schaukelt, die zur Linken plötzlich versinkt, während das andere Fenster voll Wald ist, voll See –
    Wir kreisen irgendwo.
    Zum Bewußtsein kommt, wie gering eigentlich die Zone ist, die den Menschen ernährt und gestaltet; schon kommen die letzten Matten, schon beginnt die Vereisung. Zweitausend oder dreitausend Meter genügen, und unsere Weltgeschichte ist aus. Gewisse Kessel, die wir sehen, könnten auch auf dem Mond sein. Die vielleicht einzig vorkommende Gunst von Umständen, die irgendwo im Weltall ein menschliches Geschlecht ermöglicht hat, liegt als ein ganz dünner Hauch in den Mulden, und es genügt die geringste Schwankung der Umstände; eine Vermehrung des Wassers, eine Verdünnung der Luft, eine Veränderung der Wärme. Unser Spielraum ist nicht groß. Wir nisten in einem Zufall, dessen empfindliche Zuspitzung, wenn sie uns manchmal zum Bewußtsein kommt, beklemmend wird, zugleich begeisternd. Die Menschheit als Witz oder als Wunder; die paar Jahrtausende, die sie haben mag, sind nichts gegenüber der Unzeit, die sie umgibt, und dennoch

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