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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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die bekannte Leere bei unseren Ankünften; weil unser Erleben, wenn ein gewisses Tempo überschritten wird, nicht mehr folgen kann; es wird dünn und dünner. Zwar nennen wir es noch lange Erlebnis, wo es bloß noch Kitzel ist, ein Abenteuer der Leere, ein Rausch, sich selber aufzuheben, eine Art von Wollust, daß man sich so weit verdünnen kann, bis man ohne jedes Erlebnis durch einen ganzen Erdteil kommt. Genau vor hundert Jahren fuhr die erste Eisenbahn in unserem Land; dreißig Kilometer in der Stunde. Es ist klar, daß es dabei nicht bleiben konnte. Das Kennzeichen dafür, daß wir unser Tempo überschritten haben, ist das Ungenügen, das wir jedesmal empfinden, wenn ein andrer Wagen uns vorfährt; zwar fahren wir selber schon so, daß mein Erlebnis nicht mehr folgt; in der Hoffnung aber, das verlorene Erlebnis einzuholen, geben wir nochmals Gas. Es ist das luziferische Versprechen, das uns immer weiter in die Leere lockt. Auch der Düsenjäger wird unser Herz nicht einholen. Es gibt, so scheint es, einen menschlichen Maßstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können. Daß er verloren ist, steht außer Frage; es fragt sich nur, ob wir ihn noch einmal gewinnen können und wie?
     
    Am meisten, wenn ich an unseren Flug denke, bleibt mir eigentlich die letzte halbe Stunde, das Durchfliegen der Gewölke. Plötzlich ist man in einer grauen Blindnis. Der Flügel ist noch da, alles wie zuvor, auch der runde Motor mit den blechernen Laschen, die libellenhafte Scheibe unseres linken Propellers. Nebel schlägt sich nieder; das Muster der Nieten überzieht sich mit wandernden Tropfen; aber die Nieten bleiben. Daß wir uns bewegen, läßt sich denken und behaupten, aber nicht zeigen. Es ticken die Uhren. Die zitternden Zeiger für Brennstoff, die Meßnadelnfür alles Wissenswerte. Manchmal geht es ein Stockwerk hinunter, aber ganz weich, dann wieder wie auf einer Schaukel empor. Unerschütterlich bleibt das Gefühl der Sicherheit. Der junge Pilot, die Hand am dünnen Rad, fängt den Wind mit den seitlichen Klappen, die er hebt oder senkt; er raucht; wir sind jedenfalls höher als die Gipfel, man plaudert über dies und das, und unversehens sind wir wieder in der Sonne. Ringsum ein Gebirge von glühendem Gewölk. Man sieht nicht mehr auf die Erde. Graue und blaue Strahlen brechen durch ein Gebräu, das an den ersten Schöpfungstag denken läßt. Sagenhaft türmt sich ein sommerliches Gewitter in der letzten Abendsonne, die es von unten bescheint; Ballen von Gips oder Elfenbein; die Ränder aber zerschmelzen in gleißendes Silber. Über uns der makellose Himmel; im Osten hat er schon die kühle Dämmerblässe. Wir fliegen über Wolken, die den violetten Schatten andrer Wolken tragen; es ist, als brodle der Raum, und das Licht, unwahrscheinlich wie das Licht der Offenbarung, stürzt von Grotte zu Grotte. Man sieht Schatten, die sich nirgends niederschlagen; sie hangen wie seidene Soffitten; nur einmal, ganz flüchtig, sehe ich hinunter in ein verdämmerndes Tal; die letzte Spiegelhelle in einem schlängelnden Fluß. Dann sind wir über die Wolken hinaus, ganz und gar, und der Raum, der eben noch ein Gewucher von Geheimnissen war, wird zum All. Er wird mehr als ein Geheimnis; er wird unvorstellbar. Irgendwo hangt ein Gestirn, das glüht, und anderswo hangt der Mond, blasser, aber beide nicht anders als sonst; anders empfinden wir nur die Erde, die unsichtbare, die unter den verlöschenden und aschenhaften Wolken ist: auch sie hangt; auch sie steigt in unser Bewußtsein als ein rollender Ball, der ins Leere stürzt immerzu, ohne aufzuschlagen, ein Gestirn unter Milliarden, ein langsam erkaltendes –.

Höflichkeit
    Wenn wir zuweilen die Geduld verlieren, unsere Meinung einfach auf den Tisch werfen und dabei bemerken, daß der anderezusammenzuckt, berufen wir uns mit Vorliebe darauf, daß wir halt ehrlich sind. Oder wie man so gerne sagt, wenn man sich nicht mehr halten kann: Offen gestanden! Und dann, wenn es heraus ist, sind wir zufrieden; denn wir sind nichts anderes als ehrlich gewesen, das ist ja die Hauptsache, und im weiteren überlassen wir es dem andern, was er mit den Ohrfeigen anfängt, die ihm unsere Tugend versetzt.
    Was ist damit getan?
    Wenn ich einem Nachbarn sage, daß ich ihn für einen Hornochsen halte – vielleicht braucht es Mut dazu, wenigstens unter gewissen Umständen, aber noch lange keine Liebe, so wenig wie es Liebe ist, wenn ich lüge, wenn ich hingehe und ihm sage, ich bewundere

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