Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
ihn. Beide Haltungen, die wir wechselweise einnehmen, haben eines gemeinsam: sie wollen nicht helfen. Sie verändern nichts. Im Gegenteil, wir wollen nur die Aufgabe loswerden …
Offenbar fragt er sich, was Marion mit seiner Wahrhaftigkeit eigentlich will, die als solche, ohne Bezug auf den andern, nicht mehr als eine schöne Nase ist. Will er sich selber gefallen, indem er wahrhaftig ist, oder will er helfen? Wenn er das letztere will, so wird er besorgt sein, daß man seine ehrlichen Ausbrüche annehmen kann, daß man sie verwerten und verwirklichen kann, und das heißt:
Er wird höflich sein.
Der Wahrhaftige, der nicht höflich sein kann oder will, darf sich jedenfalls nicht wundern, wenn die menschliche Gesellschaft ihn ausschließt. Er darf sich nicht einmal damit brüsten, wie es zwar üblich ist, je mehr er nämlich unter seinem Außenseitertum leidet. Er trägt eine Gloriole, die ihm nicht zukommt. Er übt eine Wahrhaftigkeit, die stets auf Kosten der andern geht –.
Das Höfliche, oft als leere Fratze verachtet, offenbart sich als eine Gabe der Weisen. Ohne das Höfliche nämlich, das nicht im Gegensatz zum Wahrhaftigen steht, sondern eine liebevolleForm für das Wahrhaftige ist, können wir nicht wahrhaftig sein und zugleich in menschlicher Gesellschaft leben, die hinwiederum allein auf der Wahrhaftigkeit bestehen kann – also auf der Höflichkeit.
Höflichkeit natürlich nicht als eine Summe von Regeln, die man drillt, sondern als eine innere Haltung, eine Bereitschaft, die sich von Fall zu Fall bewähren muß –
Man hat sie nicht ein für allemal.
Wesentlich, scheint mir, geht es darum, daß wir uns vorstellen können, wie sich ein Wort oder eine Handlung, die unseren eigenen Umständen entspringt, für den anderen ausnimmt. Man macht, obschon es vielleicht unsrer eignen Laune entspräche, keinen Witz über Leichen, wenn der andere gerade seine Mutter verloren hat, und das setzt voraus, daß man an den andern denkt. Man bringt Blumen: als äußeren und sichtbaren Beweis, daß man an die andern gedacht hat, und auch alle weiteren Gebärden zeigen genau, worum es geht. Man hilft dem andern, wenn er den Mantel anzieht. Natürlich sind es meistens bloße Faxen; immerhin erinnern sie uns, worin das Höfliche bestünde, das wirkliche, wenn es einmal nicht als Geste vorkommt, sondern als Tat, als lebendiges Gelingen –
Zum Beispiel:
Man begnügt sich nicht damit, daß man dem andern einfach seine Meinung sagt; man bemüht sich zugleich um ein Maß, damit sie den andern nicht umwirft, sondern ihm hilft; wohl hält man ihm die Wahrheit hin, aber so, daß er hineinschlüpfen kann.
Warum so viel Erkenntnis, die meistens in der Welt ist, meistens unfruchtbar bleibt: vielleicht weil sie sich selber genügt und selten auch noch die Kraft hat, sich auf den andern zu beziehen –
Die Kraft: die Liebe.
Der Weise, der wirklich Höfliche, ist stets ein Liebender. Er liebt den Menschen, den er erkennen will, damit er ihn rette, und nicht seine Erkenntnis als solche. Man spürt es schon am Ton. Er wendet sich nicht an die Sterne, wenn er spricht, sondern an die Menschen. Man denke an die chinesischen Meister.
Nicht der Kluge, nur der Weise hilft.
»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«
Ein gräßliches Wort, wenn einer es als Auszeichnung nimmt; das Bekenntnis eines Mannes, der kein Maß hat, der nicht mehr echt ist, wenn er Maß hält, und somit unerträglich für die andern, sobald er echt ist –.
Mephisto liefert übrigens die Antwort schon in dem Augenblick, da er das Stichwort gibt, das bekannte: Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist. Wichtig ist nicht, daß er grob ist. Dafür genügt der Nebensatz. Wichtig ist vor allem, daß er es nicht weiß, und das heißt: daß er sich nicht auf die andern beziehen kann. Er empfindet es selber als Lüge, wenn er nach unserem Befinden fragt, wenn er höflich ist. Das ist ein ehrliches Bekenntnis, gewiß! Nur ist es wieder jenes Poltern mit einer Tugend, die auf Kosten der andern geht und nicht genügt, da sie nur ihm genügt.
Unsere Schablone vom Künstler:
Daß ein Mensch, der innerlich ist, nicht höflich sein kann oder darf; das Innerliche und das Höfliche als unvereinbare Gegensätze; das Unbändige als Zeichen eines echten Menschen; der Künstler als Außenseiter – und zwar nicht darum, weil er eine andere Art von menschlicher Gesellschaft erstrebt, sondern einfach darum, weil ihn die menschliche
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