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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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mehr als diese Unzeit. Was es heißt, diesem Augenblick anzugehören –.
     
    Wir sind eine Gruppe von Malern und Schriftstellern; jeder darf einmal in die Laterne, wo der Pilot sitzt. Einmal fliegen wir ganz nahe an den Gipfel des Finsteraarhornes. Die Entfernung zwischen dem Felsen und unserem Flügel, sagt der Pilot, habe keine dreißig Meter betragen. Jedenfalls wird das Gestein wieder greifbar. Die plötzliche Lust zum Klettern, überhaupt die Gier, den Dingen wieder näherzukommen. Nicht aus Angst vor dem Schweben; wir fühlen uns ja, wie gesagt, unverschämt sicher in unserem Polster, und der Gedanke, dort drüben auf dem schwärzlichen Grat zu stehen, gibt erst wieder ein Gefühl von Gefahr, aber auch von Wirklichkeit. Es geht gegen sieben Uhr abends, eine Stunde, wo ich noch nie auf einem solchen Gipfel war; es ist wunderbar für das Auge, aber vermischt mit der Unruhe eines verspäteten Klettrers; die Täler im Schatten, violett, die letzte Sonne auf einer Gwächte, grünlich durchschimmert; erst durch den unwillkürlichen Kniff, daß man sich in die Lage eines Klettrers versetzt, wird alles wieder ernsthaft und erlebbar, wirklich und schrecklich. Überhaupt sind die Augenblicke, wenn plötzlich ein Grat oder ein Firn zu uns emporkommt, durchaus stärker als die Viertelstunden, da man einfach schwebt; plötzlich sieht man die Körnung im Schnee, die bekannten Spuren von kleinen Rutschen und von Steinschlag; man ist froh darum, jedesmal, wie um ein Erwachen. Leider zwingen die Wolken, daß wir uns wieder aus dem Aletschkessel heben; Jungfrau und Eiger rauchen wie Vulkane, über dem Lötschtal ballt sich ein kommendes Gewitter –
    »Das ist der Märjelensee!«
    »Die Sphinx!«
    »Der Staubbach –.«
    »Die Grimselmauer –.«
    Auch unser fast schülerhaftes Bedürfnis, sich immerfort die Namen aufzusagen, deute ich mir als ein Bedürfnis, das zerrissene Verhältnis wieder herzustellen, zurückzukehren in einen erlebbaren Maßstab. Jeder Name bedeutet: Das ist wirklich, da bin ich schon einmal gewesen, das gibt es, diesen Firn habe ich einmal erlebt, er ist sechs Stundenlang. Warum rufen sie uns plötzlich ans andere Fenster? Warum der Lärm?
    »Eine Spur! Dort über der langen Spalte!«
    »Wo?«
    »Natürlich ist das eine menschliche Spur!«
    Es erregt sie wie einst den Robinson.
     
    Was nochmals die Bomben betrifft: –
    Ohne die Entbindung aus dem erlebbaren Verhältnis, die uns die Technik in zahllosen Spielarten ermöglicht, wäre es vermutlich, ohne daß die Leute besser sein müßten, nicht so leicht, Heere von solcher Größe aufzustellen, gehorsam und jederzeit marschbereit. Nicht alle von uns eignen sich zum Schlächter, aber fast alle zum Soldaten, der an der Kanone steht, auf die Uhr schaut und die Leine abzieht. Es ist sonderbar, daß die räumliche Entfernung, die man in Metern messen kann, eine solche Bedeutung haben soll; daß unsere Vorstellung nicht stärker ist. Vielleicht ist sie es für Augenblicke, aber nicht auf die Dauer. Daß wir die Menschen, die wir nicht mit dem Auge und dem Gehör und den anderen sinnlichen Antennen erfassen, bald nicht mehr ernstnehmen können, zeigt sich ja auch sonst; das bekannte Erlöschen unsrer Briefwechsel, wenn eine Wiederbegegnung unwahrscheinlich wird; eine Weile zwingt uns noch der Anstand, der Stolz, der Wille zur Würde, die hehre Meinung, daß wenigstens unser Geist und unser Herz keiner räumlichen Schranke unterworfen seien. Es stimmt mindestens nicht für das Herz. Natürlich reicht es über unsere Sinne hinaus, aber nicht unbeschränkt; es reicht nicht um die Erde; wir sprechen von Zeiten des Friedens, wenn der Krieg in China ist. Es ist ganz offenbar, daß das menschliche Erleben, auch wenn wir uns außermenschliche Leistungen entlehnen können, mehr oder minder an den Bereich gebunden bleibt, den wir mit eignen Kräften bewältigen können. Oder mit den Kräften eines anderen natürlichen Körpers; beispielsweise eines Pferdes. Auch das Segeln bleibt noch im erlebbaren Verhältnis; der Wind ist eine außermenschliche Kraft, die wir aber nicht selber entfesseln, und gehört zu unsrernatürlichen Umwelt, die unsere körperliche Eigenschaft bildet: im Gegensatz zu den Kräften, die wir aus schweigenden Naturstoffen umsetzen, speichern und nach unsrer Willkür entfesseln. Sie erst bringen uns in Lagen und in ein Tempo, das die Natur uns nicht zudachte, und wenigstens bisher sehen wir kein Anzeichen, daß unsere Natur sich wesentlich anpaßt;

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