Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
ist; überrascht hätte es ihn nicht, wenn es die Geschichte gewesen wäre, die der Förster so umständlich erzählt hat. Aber so ist das Leben ja nicht, so witzig, so vorlaut. Gestohlen wurde nicht ein Fahrrad, sondern ein Wagen, ein Citroën. Schinz hört sich die Geschichte an, eine umständliche, aber alltägliche, eine verzwackte, aber wirkliche Geschichte. Er ist bereit, die Sache zu führen, wie er es von jeher getan hat, nämlich gewissenhaft; er tut nichts anderes als sonst; er sucht das Recht; er stellt die Sache hin, wie er sie sieht – und der Skandal ist da!
(Sein erster Skandal.)
Heinrich Gottlieb Schinz, Rechtsanwalt, Sohn eines namhaften Rechtsanwaltes, ein bekannter und überall geschätzter Mann in einer mittelgroßen Stadt, Vater von vier gesunden Kindern, die das Gymnasium besuchen oder bereits überstanden haben, Heinrich Gottlieb Schinz steht im Gericht, dem er drei Jahrzehnte lang alle Ehre gemacht hat, und sagt:
»Nein! Der Mann hat nicht gestohlen, nicht mehr gestohlen als der Herr, dem dieser Wagen gehört, der Mann war in schwerer Not, denn eines Tages –«
»Nein! der Mann hat nicht gestohlen –.«
Es ist später ein geflügeltes Wort geworden, das einzige, das Schinz auf dieser Erde hinterlassen hat … Andere Witze, die man zur Zeit dieses ersten kleinen Skandales hören kann, sind nicht überpersönlich genug, um die Zeit zu überdauern; einer davon geht so:
»Wissen Sie das Neueste?«
»Was denn?«
»Schinz ist nicht mehr Rechtsanwalt.«
»Sondern?«
»Linksanwalt.«
Darüber hat mehr als einer gelacht, sogar Schinz – nur Bimba nicht, die das Ganze durch einen Anruf erfahren hat; etwa in dem Ton: Was ist los mit Ihrem verehrten Herrn Gemahl? Nicht umsonst ist Bimba auf alles gefaßt gewesen. Seit dem nächtlichen Ausbruch an jenem Sonntag. Die Nachricht empfindet sie fast wie eine Entspannung. Wenn es nur das ist! Peinlich genug, da es natürlich in der Zeitung steht. Schinz liest es beim Frühstück, nicht gleichgültig, aber auch nicht erregt.
»Das stimmt nicht«, sagt er nur.
Ein sehr gemeiner Bericht.
»Ich werde ihnen sofort schreiben«, sagt er, indem er seine Hauszeitung hinlegt und sich Kaffee eingießt: »das müssen sie richtigstellen.«
Nach zwei Tagen kommt seine Einsendung zurück, was ihn ordentlich betrifft. Wieder beim Frühstück. Bimba ist noch im Badezimmer, als er die Post bekommt. Er steckt das Kuvert in die Tasche seines Morgenrockes, bevor Bimba kommt.
»Weißt du«, sagt Bimba: »du solltest doch zu einem Arzt gehen –.«
Doch! sagt sie; weil sie im stillen schon seit Wochen daran gedacht hat. Schinz merkt mehr als sie. Und was sie gedacht hat: Nervenarzt. O ja! Um nicht zu sagen: Irrenarzt … Er löffelt sein Ei; eine halbe Stunde später erbricht er es wieder, tut aber alles, daß Bimba es nicht merkt.
»Wo gehst du hin?«
Keine Antwort.
An diesem Morgen geht Schinz zu seinem Freund, der allerdings nicht vom Fach ist, aber ein wirklicher Freund, eigentlich der einzige, wenn auch die Freundschaft etwas einseitig ist; für Schinz bedeutet sie mehr als für den andern. Er ist Musiker. Ein lieber Mensch, der etwas gerne recht gibt. Schinz weiß: Es heißt nicht viel, wenn Alexis dir recht gibt! Es heißt, daß er eine Sympathie zu dir hat. Aber darum geht es jetzt nicht. Alexis ist Emigrant, das ist wichtig; ein Fremdling. Als Zeuge ohne volles Gewicht; er hat sich halt daran gewöhnt. Alexis ist froh, wenn er geduldet ist; er liebt es nicht, sich einzumischen. Aber ein feinerMensch, einer von den wenigen. Für Schinz würde es sich nur darum handeln, daß Alexis die beiden Texte liest, den Bericht in der Zeitung und seine eigene Einsendung. Um dann zu sagen, ob er die Einsendung richtig findet oder verfehlt, anmaßend, übertrieben. Nur keine Übertreibung!
»Ich brauche deinen Rat.«
Alexis liegt noch im Bett.
»Ich habe einen kleinen Skandal –.«
»Ich weiß.«
»Nun ist folgendes –«
Telefon, Alexis nimmt es ab. Schinz wartet, erhebt sich etwas unrastig, tritt ans Fenster, um eine Zigarette zu rauchen … Bimba will wissen, ob ihr Mann vielleicht bei Alexis ist – Eine Minute später, ohne seine Sache vorzubringen, ist Schinz wieder gegangen, unhaltbar wie ein launischer Junge; ein Mann von sechsundfünfzig Jahren, Doktor Schinz, Rechtsanwalt, Vorstand des Kunstvereins.
Alexis ruft Bimba an:
»Was habt ihr denn?« fragt er.
Bimba weint …
So geht das weiter, alles etwas komisch, etwas kleinlich, etwas
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