Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
verdächtig ist verdächtig. Schinz versucht, ruhig zu sein, nichts zu sagen. Die andern, die ihn betasten, sagen ebenfalls nichts. Körper eines älteren Mannes, das ist alles, was sie finden. Auch zwischen den Schuhsohlen, die trotz seiner ehrenwörtlichen Versicherung aufgetrennt worden sind, ist nichts. Schinz kann sich wieder ankleiden. Der Kommissar, seinen Paß in der Hand, verläßt die kahle Zelle; der Gendarm bleibt. Durch einen Türspalt sieht Schinz, wie die anderen Reisenden eben ihre geprüften oder ungeprüften Koffer wieder verschließen,Herren und Damen, Pelze, Hutschachteln, die Träger nehmen die bunten Colis.
»Wenn Sie so freundlich wären«, sagt Schinz: »die Türe zu schließen –.«
Der Gendarm gibt einen Fußtritt.
»Nur die Ruhe!« sagt er: »Den Zug bekommen Sie sowieso nicht mehr.«
»Wieso nicht?«
Der Gendarm trägt ein Gewehr.
»Wieso nicht?« fragt Schinz –
Der Gendarm könnte sein Sohn sein.
»Fertig?«
Das fragt nicht der Gendarm, sondern ein dritter, der die Tür wieder geöffnet hat, um sie wieder nicht ganz zu schließen; herein und hinaus – Fertig? nichts weiter als das: Fertig?… Schinz bemüht sich, nicht zu hassen; das ist ihr Dienst, sagt er sich, ein widerlicher Dienst, mitten in der Nacht eine Uniform anziehen und auf die verspäteten Züge warten, Leute sehen, die ans Meer fahren oder ins Gebirge, Leute untersuchen, die daran schuld sind, daß man solchen Dienst überhaupt machen muß. Schinz bemüht sich, seine mißhandelten Schuhe anzuziehen und nicht zu hassen. Ein älterer Mann wie er, im Augenblick nicht gerade gepflegt, Hosen mit Hosenträgern, Hemd ohne Kragen, dazu das grünliche Licht, Schinz begreift, daß er hier nicht die Formen erwarten kann, welche die Herren auf der Zeitung noch gewahrt haben, bevor sie den Titel wählten:
»Nein! Der Mann hat nicht gestohlen …«
Man wird sehr rasch bekannt.
»Nehmen Sie Platz«, sagt der Kommissar, als Schinz, seinen Mantel auf dem Arm, vor dem Tisch steht und wieder eine Krawatte trägt: »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Schinz bleibt stehen.
»Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen«, sagt er: »daß mein Zug in vier Minuten weiterfährt.«
»Das geht mich nichts an.«
Pause.
»Meinetwegen bleiben Sie stehen.«
Schinz setzt sich, es hat keinen Sinn, die Leute vor den Kopf zu stoßen; das ist ihr Dienst, ein widerlicher Dienst.
»Schinz, Heinrich Gottlieb –.«
»Ja.«
»Doktor jur.«
»Ja.«
»Rechtsanwalt –.«
»Ja«, sagt Schinz; es fehlt jetzt nur noch, denkt er, daß der Hornochse mir vorliest, wieviel Zentimeter ich habe.
»Geboren –«
»Ja!«
Draußen hört man das Gepaff der Lokomotive, bereit, jeden Augenblick abzufahren; Schinz beißt auf die Lippen, der Hornochse blättert im Paß, als hätte er noch keinen gesehen.
»Wo fahren Sie hin?«
»Hinaus«, sagt Schinz.
»Ich frage, wo Sie hinfahren.«
»Ich sage: Hinaus.«
Pause.
»Ich frage Sie zum letzten Mal.«
Schinz hat Mühe, nicht zu hassen, alle zu hassen in diesem Einzigen, der da hockt, seinen Paß in der Hand, zu hassen, zu hassen … Nicht die Nerven verlieren! denkt er: Ich muß hinaus, ich muß, ich kann es nicht aushalten, Unrecht zu sehen und zu schweigen, Zeitungen zu lesen, die das Gegenteil sagen, Menschen zu sehen, die mich wie einen armen Kranken behandeln, wie ein Kind mit einem fallenden Weh, zu fühlen, wie sie Angst haben vor meinem nächsten Fauxpas, diese mütterliche Sorge, ich könnte unseren Wagen auf ein Trottoir fahren, diesen freundschaftlichen Rat, ich solle nicht so viel rauchen und mich nicht in eine Sache hineinsteigern, das Schweigen, wenn ich mich erkläre, die unausgesprochene Hoffnung, daß ich endlich zu einem Nervenarzt gehe, ich halte es nicht mehr aus, ich muß hinaus! – und noch ist der Zug nicht abgefahren, die paffende Lokomotive, die zum Platzen voll Dampf ist …
»Wo fahren Sie hin?«
»Das geht Sie einen Dreck an!«
Schinz ist aufgesprungen.
»Bitte«, sagt der Kommissar –
»Das geht Sie einen Dreck!« schreit Schinz: »Das geht Sie einen Dreck an!«
Schreien ist so unschinzisch, er merkt es jedesmal, bereut es jedesmal, nicht weil der Hornochse ihn jetzt strafen wird, bereut es, weil es ihm nicht liegt … Gottlieb, hat Bimba damals gesagt, ich bin nicht taub – Und ob sie taub sind! Alle sind sie taub! Sie hören, daß man schreit, aber nicht, was man schreit. Das ist es! Natürlich sind sie taub, sonst würden sie sich selber nicht aushalten, sie würden
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