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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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sonst?«
    Die Dame geht quer durch das Zimmer; ihr Gang ist immer rasch, immer leicht, und man sieht die gehenden Oberschenkel unter dem anliegenden Kleid; auch ihre Oberarme, scheint es, bleiben stets an den schmalen Körper geschmiegt, und nur vom Ellbogen an heben sich ihre geschlossenen Ärmel, wenn sie beispielsweise raucht; zierlich spielt ihr goldenes Armband; ihr Mund, auch wenn sie nicht mehr raucht, bleibt meistens mit jenen offenen Lippen, wie sie den Rauch aushaucht, rund und laßund so, daß man ihren feuchten warmen Glanz sieht … Sie öffnet die Türe, die ebenfalls von Ordnern umrahmt ist:
    »Bitte«, sagt sie: »Hier war sein Schlafzimmer –.«
    »Aha.«
    »Man hat nichts verändert.«
    »Wenn es gestattet ist …«
    »Bitte.«
    Der Sonderbare, als die Dame ihm die Türe hält, macht eine kleine Verbeugung, als spüre er, wie schwer ihr seine plötzliche Nähe fällt, die durch die enge Türe verursacht wird.
    »Aber vielleicht wollen Sie hier lieber allein sein –«
    »Wenn das möglich ist?«
    »Aber bitte!«
    Die Türe zu.
    Doktor Hahn und die Gattin blicken sich an wie zwei Leute, deren heimliches Einverständnis endlich wieder einen unbewachten Augenblick hat. Noch sagen sie nichts; noch spüren sie die Türe hinter dem Rücken. Sie geht zu einem Polstersessel, setzt sich, zieht ihre Augenbrauen und nimmt eine neue Zigarette, worauf Doktor Hahn, der sich näherte, in die Tasche greift und ein Feuerchen aufschnappen läßt.
    »Du glaubst im Ernst, das alles hat einen Sinn?«
    »Es ist unsere Pflicht, Elsa, daß wir alles versuchen, und wenn es ein Hellseher ist –«
    »Ein Hellseher aus dem Kabarett!«
    »Wo findet man sie sonst?«
    »Gräßlich, gräßlich …«
    »Unsere eignen Nachforschungen, du weißt es, sind ohne jedes Ergebnis. Bisher. Die Spürhunde bleiben hilflos wie unser Verstand.«
    »Jetzt sind es bereits drei Tage, seit er verschwunden ist –«
    »Wenn der Schnee nicht wäre –«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    »Keine Fußspur, nichts, keine Witterung, kein Mensch, der ihn gesehen hat –«
    Es klopft. Man schaut sich an. Dann:
    »Herein?«
    Es ist das Dienstmädchen, das eine weiße Schürze trägt, ein Kind mit starken und auffallend hohen Backenknochen, die fast mongolisch wirken, dazu sehr helles Haar und wassergraue Augen, die weit gegen die Schläfen sitzen; der Blick hat stets etwas Lächelndes, etwas Lauerndes, und da er nicht verrät, was das Hirn dahinter denkt, neigt man schließlich, damit man seine Ruhe hat, zu der Annahme, daß es überhaupt nichts denkt, daß die Person einfach dumm ist. Die Dame sagt:
    »Was gibt es denn?«
    »Die Post, gnädige Frau –.«
    Wenn sie spricht, sieht man die beiden Schneidezähne, die durch einen ziemlich großen Zwischenspalt auffallen; ihre ganze Art, wie sie immer noch dasteht, ist halb schüchtern, halb frech; ihre Neugier nach den letzten Nachrichten, betreffend das Unglück mit dem Hausherrn, mag natürlich sein, aber sie trägt diese Neugier wie ein heiliges Anrecht und geht nicht hinaus, bis die Dame, ohne sie anzusehen, mit Betonung sagt:
    »Danke.«
    Sie knickst. Und geht …
    Die Dame öffnet Briefe:
    »Ich kann die Person nicht ausstehen –«
    »Warum?«
    »Hast du sie nicht angesehen …«
    »Schon.«
    Sie öffnet immer weitere Briefe.
    »Die Dienstmädchenfrage«, sagt Doktor Hahn, »das ist auch so eine Sache, die in der Luft liegt …«
    Er schneidet sich eine Zigarre.
    »Nichts?«
    »Nichts«, sagt Elsa: »nichts von ihm, nichts über ihn, Rechnungen, Einladungen, Drucksachen, Erlasse und Vorschriften, Empfehlungen, Aufrufe gegen die Trunksucht, Einladungen –«
    Er zündet seine Zigarre an:
    »Am vorigen Freitag habe ich ihn zum letztenmal gesprochen, wie gesagt, gerade nach der Verhandlung, aber es war nichts Besonderes,er nahm mich in den Wagen, und wir sprachen noch über die Rechtsbelehrung für die Geschworenen –«
    Er raucht.
    »Und dir ist auch nichts aufgefallen –.«
    »Natürlich hörte ich genau, wie er sich ankleidete«, sagt sie. »Er war immer sehr rücksichtsvoll, machte überhaupt kein Licht, so genau wußte er, wo seine Sachen sind, seine Schuhe, seine Krawatte –«
    »Um welche Zeit war das?«
    »Zwei Uhr vielleicht, drei Uhr –«
    »Und du hast ihn nicht gefragt, ich meine, warum er sich ankleidete, wohin er ginge?«
    »Wohin schon? Ins Arbeitszimmer, dachte ich; er machte das ja oft –«
    »Mitten in der Nacht?«
    »Wenn er viel Arbeit hat – vor allem vor den Verhandlungen – daran

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