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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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–«
    Doktor Hahn bleibt stehen:
    »Wollen Sie dem Gericht vielleicht sagen, daß Sie den alten Hauswart aus purer Langweile erschlagen haben?«
    »Sie verstehen mich nicht ganz.«
    »Nein!«
    »Natürlich nicht«, lächelt der Mörder: »sonst hätten Sie schon lange ein gleiches gemacht –.«
    Er zertritt seine Zigarette.
    »Wenn Sie in einer Stunde so sprechen vor den Geschworenen, so wird es heißen, daß Sie jede Reue vermissen lassen, aber auch jede, und ich sage Ihnen immer wieder, was die Reue für eine Rolle spielt, und zwar gerade bei den Geschworenen!«
    Der Mörder zieht die Brauen:
    »Reue …«
    Sein Fuß, der die Zigarette zertreten hat, dreht noch immer auf dem Stummelchen herum, und beide, der Anwalt und der Mörder, blicken auf diesen Fuß während der letztere sagt:
    »Ich verstehe nicht, warum sich plötzlich die ganze Menschheit um diesen Hauswart kümmert, alle, die ihn mit keinem Blick bemerkten, wenn er ihnen die lautlose Flügeltüre hielt –.«
    »Mensch ist Mensch.«
    »Ja –.«
    »Es ist nicht zum Lachen!«
    »Nein – gehen Sie hinaus und sagen Sie das der Welt: Mensch ist Mensch. Nichts weiter! Aber tragen Sie sich Sorge, daß Sie nicht verzweifeln, lieber Doktor, und daß Sie in der Verzweiflung nicht zur ersten besten Axt greifen …«
    Es klopft.
    »Herein!«
    Es ist ein Gendarm, der das liebe Gesicht eines Bienenzüchters hat, zwei alte und zugleich kindliche Augen, die immer ein bißchen wässern, als hätte er Schnupfen, und eine bläuliche Nase dazwischen, die wie eine weiche Feige anzufühlen wäre; er hat einen rauhen, aber gedämpften Baß:
    »Herr Doktor Hahn.«
    »Unsere Zeit ist noch nicht um.«
    »Ein Brief –.«
    »Für mich?«
    »Es eilt. Wenigstens steht es drauf.«
    »Danke«.
    Der Gendarm geht und Doktor Hahn reißt sofort den Umschlag auf, nachdem er die Schrift offenbar erkannt hat; er liest, während der Mörder wieder an das Gitterfenster getreten ist und hinausschaut, wie es schneit. 
    »Das Gericht ist vertagt –.«
    Es schneit ohne Unterlaß.
    »Haben Sie gehört?«
    Das Weitere, was die Überraschung mit einer anderen Überraschung erklärt, sagt er mit jener Art von plötzlicher Anbiederung, wie sie sich gerne bei erregenden Ereignissen einstellt:
    »Der Oberrichter seit vorgestern verschwunden und verschollen, ohne jede Spur, ohne jede Vermutung –«
    Er schaut auf den Hinterkopf:
    »Verschwunden und verschollen!«
    Während er den Brief noch einmal liest, sagt der Mörder am Gitterfenster, als ginge ihn diese Nachricht überhaupt nichts an:
    »Sie haben keine Ahnung, lieber Doktor, wie vertraut mir der Anblick ist, wenn ich durch dieses Gitter schaue – Schnee … und immer diese fünf Stäbe davor! Warum soll ich den Geschworenen meine Reue zeigen? So war es auch auf der Bank, jeden Morgen –.«
    Doktor Hahn packt seine Akten zusammen. Die Gattin desVerschollenen, die ihm den Brief geschrieben hat, erwartet ihn dringend.
    »Wir sprechen uns wieder am Montag.«

Dritte Szene
    Am andern Morgen, als der Fremde erwacht, sieht er sich in der Hütte des Holzfällers, erinnert sich wenigstens, daß er schon am Abend in dieser Küche gesessen hat. Auch die lederne Mappe ist noch da, und das beruhigt ihn, obschon er nicht weiß, was eigentlich darin ist. Am Herd steht das Mädchen, das eben die Knüppel gebracht hat, und vielleicht ist er daran erwacht. Lange schaut er sie an, ihre starken und hohen Backenknochen, die irgendwie mongolisch wirken, ihr helles Haar, wie es Lettinnen haben, ihre wassergrauen Augen und die beiden Schneidezähne, die bei jedem noch so verhaltenen Lächeln auffallen, weil sie einen ziemlich großen Zwischenspalt offenlassen … Auch das Mädchen sieht ihn an, lange und wartend; dann sagt es:
    »Nehmen Sie mich fort von hier.«
    »Warum …«
    »Sehen Sie es nicht?«
    »Ja – schon …«
    »Es ist traurig hier. Wenn Sie zehn Jahre in dieser Küche sitzen, es ist nicht anders. Es kommt nichts dazu. In einer halben Stunde wissen Sie alles.«
    »Ich kenne das …«
    Er fährt sich über die Stirne, als möchte er weiter erwachen, und plötzlich von der Angst befallen, daß man ihn fragen könnte, stellt er selber die Frage:
    »Wie heißen Sie eigentlich?«
    »Inge.«
    »Ein schöner Name …«
    »Warum blicken Sie mich so an?«
    Er wollte das nicht; er löst seinen Blick von ihrem jungen Gesicht und schaut anderswohin, vielleicht auf den Herd, wo dasFeuer brennt, oder auf das kleine Fenster oder draußen auf den Schnee, der immer

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