Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
sagt:
»Jede Ruine hat als solche einen Reiz, der außerkünstlerisch ist, also für den ernsten Künstler nicht statthaft. Man macht keine Ruinen, anständigerweise, und alles Skizzenhafte, alles Aphoristische ist eine Ruine nach der Zukunft. Denken wir an die Akropolis, gewiß, auch sie wie jede Ruine spielt mit der Wehmut, daß sie einmal ein Ganzes war; aber die Akropolis kann nichts dafür, daß sie eine Ruine ist. Ganz anders eure Skizzenkunst! Ihr spielt nicht mit der Wehmut, aber mit dem Gegenteil – mit der Hoffnung, mit dem Versprechen eines Ganzen, das da kommen soll und das ihr in der Tat nicht leisten könnt!«
Hat Cesario nicht recht?
Aphoristik als Ausdruck eines Denkens, das nie in einem wirklichen und haltbaren Ergebnis endet, es mündet immer ins Unendliche, und äußerlich endet es nur, weil es müde wird, weil die Denkkraft nicht ausreicht, und aus bloßer Melancholie, daß es so ist, macht man Kurzschluß, das Ganze als eine Taschenspielerei, um ein Unlösbares loszuwerden, indem man sich einen Atemzug lang verblüfft, damit man einen Atemzug lang nichtweiterfragt, und wenn man es später bemerkt, daß man nichts in der Hand hat als einen Knall, dann ist der Taschenspieler schon nicht mehr da – allenfalls bleibt noch die Verblüffung, daß das Gegenteil seiner Aussage, die uns eben verblüfft hat, nicht minder überzeugt; natürlich gibt es auch Aphorismen, die nicht einmal stimmen, wenn man sie umkehrt.
Und noch eins:
Der Aphorismus gibt keine Erfahrung. Er entspringt wohl aus einer Erfahrung, die er ins Allgemeine überwinden möchte; der Leser aber, der bei der Erfahrung nicht dabei war, vernimmt nur dieses Allgemeine, das sich für gültig erklärt, und obschon man nun meinen könnte, gerade das Allgemeine ginge also jeden an, zeigt es sich, daß der Leser, will er mehr als einen Kitzel haben, es seinerseits wieder auf ganz bestimmte Fälle und Personen bezieht, nämlich auf solche, die er gerade kennt. Dabei genießt er natürlich den Umstand, daß ein Wort, je allgemeiner es gefaßt ist, sich um so leichter nach allen Winden drehen läßt; der Aphorismus steht meistens zu unseren Gunsten. In einen hohlen Kopf geht viel Wissen! lese ich bei Karl Kraus, der wohl ein Meister der Aphoristik ist, und schon habe ich eine Geißel in der Hand, knalle mit bübischem Vergnügen und zwicke nach allen Bekannten, deren größeres Wissen mich immer beschämt. Wer hindert mich daran? Jedenfalls nicht der Aphorismus, der selber nicht sagt, wen er meint: also genießen wir ihn von seiner eigentlichen Schwäche her, die eben darin besteht, daß er nur Ergebnisse liefert, aber keine Erfahrung. Wer Aphoristik macht, ohne daß wir sein Leben kennen, gibt nichts als die obersten Blumenköpfe, so wie Kinder sie rupfen, keine Wurzeln daran, welche die Blüten nähren, keine Erde dazu, und die bunten Blumenköpfe bleiben eine Verblüffung, die bald verdorrt – darum die Erzählung, die auch die Wurzel liefert, ganze Klumpen von Erde daran, Mist und Dünger in Fülle.
Erzählung: aber wie?
Marion:
»Was aber, Maestro, wäre statthaft? Schauen wir auf die andorranischeKunst unsrer Tage; wir schreiben Romane, als stünde noch immer eine Sanduhr neben uns, als hätten wir nach allem, was an unheimlicher Erkenntnis zugestoßen ist, einen durchaus handlichen und sicheren Begriff von der Zeit, einen unerschütterten Glauben an Ursache und Wirkung; wir schreiben Sonette, die aufgehen, wie unser Denken leider nicht aufgeht, Sonette, als wüßte der Schreiber auf die Zeile genau, wo der Mensch aufhört, wo der Himmel beginnt, wie Gott und der Teufel sich reimen; auf alles reimt sich sein Sonett, nur nicht auf sein Erlebnis, und vielleicht kommt es daher, daß es ihm so leicht fällt. Ich weiß nicht, Maestro, ob ich sagen kann, was ich leide. Wir haben eine Quantenlehre, die ich nicht verstehe, und keiner ist aufzutreiben, der alles zusammen versteht, keiner, der unsere ganze Welt in seinem Kopf trüge; man kann sich fragen, ob es überhaupt eine Welt ist. Was ist eine Welt? Ein zusammenfassendes Bewußtsein. Wer aber hat es? Wo immer ich frage, es fallen die Wände ringsum, die vertrauten und sicheren, sie fallen einfach aus unserem Weltbild heraus, lautlos, nur die Andorraner schreiben noch immer auf diese Wände, als gäbe es sie, immer noch mit dem Anschein einer Vollendung, die in der Luft hängt. Wie aber, Maestro, wäre das statthaft und löblich? All unsere Kunst, je mehr sie in diesem Sinne
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