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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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den Sportplätzen erledigt,in der Geschichte der Völker führen muß, und es gelingt mir auch einigermaßen. Aber das Gegenteil, das übrigens öfter vorkommt, wirft meine weltbürgerliche Pose jedesmal über den Haufen; wenn ich hier meine Landsleute sehe, wie sie mit ihrer Währung die italienischen Läden plündern, ärgere ich mich bleich –
    Warum eigentlich?
    Die offenbare Enttäuschung verrät unsere heimliche Annahme, daß das eigene Volk, nur weil wir ihm selber gerade angehören, schließlich doch ein Mustervolk sei, und somit würde es also genügen, wenn man sich über sich selber ärgerte.

»Die Chinesische Mauer«
    Heute an der Hauptprobe. Ich sehe das Stück zum erstenmal. Ein Schock etwa folgender Art: du kommst nach China, wo du noch nie gewesen bist, kommst auf einen öffentlichen Platz, wo viele Chinesen stehen, und schaust einem Tänzer zu, dessen Getue dich teilweise verwundert oder gar entzückt, teilweise auch ekelt, und alle sagen, dieser Tänzer bist du. Niemand anders als du! Im Augenblick, wo ich es zwar nicht begreife, aber glaube, hinnehme und zugebe, begreife ich überhaupt nicht mehr, was da gespielt wird, keinen Satz, keine Szene, alles Fremdsprache, keine Ahnung, ob es etwas heißt –
    Übermorgen ist Premiere.
    Das Theater als ein fürchterlicher Zerrspiegel, aber am fürchterlichsten, wo es das nicht ist; denn das Fremdeste, was man erleben kann, ist das Eigene einmal von außen gesehen.

Kalendergeschichte
    Ich versichere bei meiner Ehre, daß ich an jenem Tag, also am zweiten September dieses Jahres, zum erstenmal nach Prag gekommen bin. Am Vorabend, nach einem kurzen Gewitter, hattenwir Kolin erreicht. Da sie uns kein annehmbares Zimmer geben wollten, beschloß ich, zumal die Wolken sich lichteten, unsere Reise fortzusetzen; wir kippten unseren Branntwein, und Ivo, mein Bursche, fluchte über meinen kurzen Entschluß. Gegen Mitternacht kamen wir abermals in ein Gewitter. Ich erinnere mich an alte Bäume, alle tosend, alle wie schwarze und zerrissene Fahnen. In einem böhmischen Dorf, dessen Namen ich vergessen, mußten wir die Pferde wechseln. Ich blieb in der Karosse. Draußen regnete es wieder in Strömen. Wir hatten einen langen Tag hinter uns, staubig und schwül; ich ärgerte mich über den offenen Mund eines Schläfers, den ich nicht wecken konnte, da ich selber es war. Ich träumte allerlei verworrenes Zeug, erwachte über dem Schrecken, daß ich die herzogliche Botschaft, die ich in meiner linken Brusttasche trug, verloren hätte. Auch von Anja hatte ich geträumt. Unterdessen waren wir, wie der Bursche behauptete, schon wieder eine Stunde gefahren, und ich dachte noch lange an Anja. Der Regen war verstummt. Langsam graute es, man sah die Tümpel in der schlechten Straße, und ich fühlte mich heiter: der Gedanke an das schöne Prag, die Freude, daß ich durch meinen kurzen Entschluß einen ganzen Tag gewonnen hatte, das alles machte mich fast übermütig; unwillkürlich sang ich vor mich hin, Lieder aus unsrer Husarenzeit. In der Ferne erkannte man schon die ersten Türme, und plötzlich, droben auf einem Hügel, erschienen die langen Fassaden des Hradschin, anzuschauen wie eine Burg aus Silber und Asche, das Ziel meiner Reise – jetzt erst versicherte ich mich, daß ich die herzogliche Botschaft nicht wirklich verloren hätte, wie Anja mir im Traum hatte einreden wollen, griff in meine linke Brusttasche, und in der Tat, ich griff ins Leere …
    So kam ich nach Prag.
    Es mochte vier Uhr morgens sein oder später, als wir über das fremde Pflaster ratterten, und ich war natürlich starr, nicht wegen der herzoglichen Botschaft, daran dachte ich noch kaum, während ich in der Karosse saß, meine Hand noch immer in der linken Brusttasche, wo ich nichts als das Klopfen meines Herzens fand. Wo ist deine Botschaft? hat Anja gesagt; lachend, ihreHand auf meiner Brust: Wo ist deine Botschaft? Noch habe ich niemals erlebt, daß sich ein Traum verwirklicht hätte, und das alles, dünkte mich, war nur geschehen, damit Anja, die Verstorbene, mich noch einmal erschrecken konnte –.
    Unterdessen hielten wir bereits vor der Gesandtschaft.
    Bleich wie eine Leiche, so vermute ich, verließ ich die Karosse. Man war wegen meiner frühen Ankunft ziemlich verwirrt. Ich befahl, daß man meinetwegen niemanden weckte, und das verwirrte noch mehr. Der alte Diener, mein Gepäck in der Hand, betrachtete mich wie ein Gespenst, als er hörte, daß ich überhaupt nichts wünschte, keinen Tee und

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