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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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nichts. Allein in dem Zimmer, das mit dem üblichen Bildnis unsrer Durchlaucht geschmückt war, zog ich meine Handschuhe aus, warf sie auf den Tisch, ebenso den Hut; auch die Pistole legte ich ab; ich trat an die schweren Vorhänge, die ich sofort öffnete, und einen Augenblick überlegte ich mir, ob ich mich gleich erschießen sollte oder warten, bis die Sonne noch einmal aufginge. Auch hier war das Gewitter gewesen, ich sah die nassen Dächer, ich dachte, während ich so stand, an alles Mögliche und Unmögliche, nur nicht daran, wie ich die herzogliche Botschaft wiederfinden könnte. Ich stand und blickte über die fremde Stadt, unsicher, ob ich nicht immer noch träumte, unsicher, ob es das Dorf in der Nacht, wo ich die Botschaft verloren haben mußte, überhaupt gab. Ich war übermüdet … Natürlich dachte ich auch wieder an Anja, an unsere ganze Geschichte von damals, vor allem an die Nacht, wie ich sie zum letztenmal gesehen hatte, bevor ich auf die Residenz ging; achtzehn oder neunzehn Jahre waren das her; wir hatten einander wirklich lieb; meine Verdienste im Feld, der plötzliche Tod unseres Vaters, das überraschende Angebot seiner herzoglichen Durchlaucht, die mich zum Botschafter erkor, das alles hatte ich Anja erklärt, ganz offen und ehrlich; Anja sagte kaum ein Wort, wir saßen damals eine ganze Nacht, und ob Anja wirklich begriff – ich erklärte ihr eindringlich genug, wie unsinnig es unter diesen Umständen wäre, das Kind zur Welt zu bringen –, weiß ich nicht; sie hörte mir nur zu; sie blickte mich nur an, und das einzige, was sie einzuwenden wußte, war natürlich der liebeGott, der stets die letzte Karte ist, wenn man keine Gründe mehr weiß … 
    Einmal, als bereits die Sonne schien und ich immer noch stand, wurde ein Fensterladen aufgestoßen, es war gerade gegenüber, und ich sah ein Mädchen, eine junge Frau mit offenem Haar; sie hatte einen blauen Überwurf, den sie oberhalb der Brust, während sie in die Gasse schaute, mit der linken Hand zusammenraffte. Sie hatte mich offenbar bemerkt; jedenfalls zog sie sofort die Vorhänge. Ich sah ihre nackten Füße auf dem besonnten Zimmerboden, wußte, daß sie mich durch die Vorhänge betrachtete. Ich spürte, wie es in meinen Schläfen hämmerte. Ohne jede Ahnung, was ich eigentlich erwartete, blieb ich stehen, und als sie abermals den Vorhang öffnete, um mich trotzig anzusehen, nickte ich. Es war mir, als müßte ich sie kennen. Sie nickte ebenfalls. Ich trat in das Zimmer zurück, schnallte endlich meinen Degen los und war entschlossen, den Tag nicht wegzuwerfen, den ich mir durch meinen eigenen Entscheid geschenkt hatte. Meine Ankunft wurde erst für morgen erwartet. Bis morgen hatte ich jedenfalls Zeit. Noch ein ganzer Tag gehörte mir, ein beinah wolkenloser; noch eine ganze Nacht, und ich dachte, was eine Nacht alles sein kann …
    Endlich klingelte ich dem Diener.
    Er sollte mir das Gepäck bringen, und zwar sofort, damit ich meine Pistole einschließen konnte für den Fall, daß mich der Mut wieder verließe, und zugleich bestellte ich Wasser, stieß meine verschmutzten Stiefel ab, öffnete den Rock, meine Krause war ein grauer Lappen, und ich freute mich auf das frische Zeug. Im Grunde, wenn ich es an der Sonne betrachtete, konnte ich den nächtlichen Vorfall, der mich auf so schmähliche und lächerliche Weise vernichten wollte, einfach nicht glauben; noch war mir nichts mißlungen, soweit ich mich entsinnen kann, und schließlich, so sagte ich mir, hat man immer noch seinen eigenen Kopf.
    Graf von U., unser Gesandter, ließ mich zu einem Frühstück bitten; er begrüßte mich mit einer Miene, als trüge er die ganze Welt auf seinen schmalen Schultern. Ratlos saß er meiner glänzenden Laune gegenüber. Er schilderte mir, da er mich auszuforschenkein Anrecht hatte, die drohende Lage, die wachsende Spannung zwischen unseren Ländern. Ich hörte zu, was alles an feindseligen Vorfällen schon geschehen war, aß und trank, als erzählte er von vergangenen Zeiten; nur einmal, zwischen zwei Bissen, sagte ich:
    »Ich habe eine Botschaft an die Böhmische Krone; morgen werde ich auf dem Hradschin empfangen.«
    »Wir sind unterrichtet.«
    Nur die genaue Stunde war noch nicht bestimmt; ich bat ihn, auch dies im Verlaufe des Tages abzuklären –
    Er blickte mich an:
    »Glaubt man unsererseits, daß sich der Krieg vermeiden läßt?«
    Darauf antwortete ich nicht. Ich erkundigte mich nach einem guten Pferd, äußerte meine morgendliche

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