Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
weiß nicht, was er denken soll, wenn er denEngel sieht, und ob es wirklich ein Engel ist, der so zu ihm redet:
    »Warum kommst du nicht?«
    Marion fragt:
    »Wo, wenn du ein Engel bist, führst du mich hin?«
    »Zu dir –.«
    Und zum letzten Male:
    »Warum kommst du nicht?«

Letzigraben, August 1947
    Endlich ist es soweit, daß wir mit unserem Bau beginnen. Die ersten Arbeiter sind auf dem Platz; ihre braunen Rücken glänzen von Schweiß, und um die Baracke, wo unsere Pläne warten, wimmelt es von leeren Bierflaschen; irgendwo werfen sie Bretter aufeinander, daß es hallt; die ersten Lastwagen sind da, und heute, wie ich auf diese Baustelle komme, ist es schon ein ganzer Berg von brauner Erde; ein Bagger frißt die Wiese weg mitsamt den Stauden. In zwei Jahren, die mir sehr lang erschienen, soll die Anlage eröffnet werden; ein Freibad für das Volk. Vor hundert Jahren war hier der Galgenhügel; der Aushub wird nicht ohne Schädel sein, wie sie Hamlet in die Hand genommen hat, und weiter drüben ist es das alte Pulverhaus, das sie eben abbrechen; fast lautlos stürzen die alten Mauern, verschwinden in einer Wolke von steigendem Staub –
    Wären es die Pulverhäuser aller Welt!

Portofino, September 1947
    Wir wunderten uns schon, warum die Limousinen alle unter den Palmen bleiben; niemand mag ausfahren. Überall wird Kaffee getrunken, in italienischen Zeitungen geblättert. In Genua und anderen Städten, heißt es, soll heute der große Streik beginnen. Jemand spielt Pingpong. Sonderbare Luft zwischen Alarm undLangeweile. Leider herrscht immer noch die sommerliche Hitze, keine Lust zum Wandern, nicht einmal zum Schwimmen; das Meer ohne jede Brandung, lautlos, glatt wie Glas, es bewegt sich kein Segel, kein Halm.
     
    Gestern habe ich den Umbruch meines bisherigen Tagebuches bekommen, das ist immer eine leidige Sache, Arbeit nach rückwärts. Sich selber lesen! Ich brauche viel Cinzano dazu. Was nicht sagen soll, daß das Schreiben kein Vergnügen sei! Ich werde es nicht lassen. Aber hin und wieder, einen Umbruch in der Hand, fragt man sich doch, was für ein Interesse das haben soll für andere, nimmt sich eine Zigarette und schielt hinüber zu den andern Tischlein, betrachtet die Leute, die eben über die Piazza schlendern, mustert sie – es gibt so vielerlei Leute auf der Welt; ein Sportler und Weltmann, der das einzig mietbare Segelschiff vor meiner Nase wegzuschnappen pflegt, sobald ein Windlein kräuselt, ein gesunder und netter Mann, aber kein Leser, glaube ich, sowenig wie die sieben Fischer, die barfuß mit gekrempelten Hosen über die Piazza gehen; sowenig wie das Dämchen, das jene Hosenart nachahmt, oder das ältliche Ehepaar, der lungernde Wechsler und Schwarzhändler mit dem antikischen Gesicht, die beiden Verliebten, die sich immer um die Hüften halten … Seinen Leser, glaube ich, muß man sich denken; das ist schon ein Teil unsrer Arbeit, die Erfindung eines Lesers, eines sympathischen, nicht unkritischen, eines nicht allzu überlegenen, auch nicht unterlegenen, eines Partners, der sich freut, daß wir an ähnlichen Fragen herumwürgen, und nicht ärgerlich wird, wenn unsere Ansichten sich kreuzen, nicht herablassend, wenn er es besser weiß, nicht blöde, nicht unernst und nicht unspielerisch, vor allem nicht rachsüchtig. Unser Leser: ein Geschöpf deiner Vorstellung, nicht unwirklicher und nicht wirklicher als die Personen einer Erzählung, eines Schauspiels; der Leser als die ungeschriebene Rolle. Ungeschrieben, aber nicht unbestimmt, ausgespart durch das Geschriebene; ob es die Rolle eines Schulbuben ist, der belehrt wird, oder die Rolle eines Richters, der es genießt, wenn er uns eines Widerspruchs überführen kann, dieRolle eines Jüngers, der uns anzuwundern hat, die Rolle eines Götzen, dessen Gunst wir erschmeicheln, oder die Rolle einfach eines Partners, eines Mitarbeiters, der mit uns sucht und fragt und uns ergänzt, eines menschlichen Gefährten, es liegt an mir, dem Schreiber, und von niemand kann ich verlangen, daß er die Rolle, die ausgesparte, übernimmt; ich kann mich nur freuen, wenn einer es tut oder eine – irgendwo in der Sonne oder unter einer Lampe, in einer Eisenbahn, in einem Kaffeehaus, in einem Wartesaal des Lebens – und besonders, wenn jemand es mit Begabung tut.
     
    Santa Margherita.
    Ein Fischkutter bringt seine Wochenbeute. Kistchen voll Tintenfisch, alles triefend, das grüne und violette Glimmern, schleimig wie der Glanz von Eingeweide. Das Hin und Her

Weitere Kostenlose Bücher