Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
der kleinen Barken; mindestens eine ist immer unterwegs zwischen dem ankernden Kutter und der Mole, die im vorigen Jahr noch zerstört war. Die Fischer sind einheitlich-schmutzig, ölig, fröhlich und müde, ein wenig auch stolz: der Mann, der erbeutet, und die Weiber, die die Beute in Empfang nehmen, alles weitere für die häusliche Verwertung tun. Markt unter schattigen Bögen. Sie schütten die wässerige Beute auf steinerne Tische, die mit Feigenblättern und Farnkraut wie zu einem Fest geschmückt sind; sofort beginnt der Verkauf, das Gefeilsch mit singenden Rufen und Gebärden. Ganze Hügel von Schuppensilber. Natürlich stinkt es. Pracht der Farben: das fleischliche Rosa, das Graue, das wie ein Schleier ist, das Grünliche und Bläuliche, alles unter einem Schillern unsäglicher Übergänge. Schön sind die langen Aale mit den weißen Bäuchen, den grünen und braunen Rücken, den schwarzen Flossen. Oder der herrliche Schwung eines Schwanzes, der über den steinernen Tisch hangt. Dann das Messer, das sie aufschlitzt, und die nassen, roten, dicken Weiberhände, die es auf die Waage werfen; dann wechseln sie das papierne Geld. Signore? rufen sie. Niente! Schon ruft die Nächste: Signore? Ein Seestern ist auch dabei, an der Luft hat er seinen ganzen Glanz verloren, nur noch ein grauer Teig, gräßlich mitder Vielzahl seiner blinden Glieder, ihr langsames und verlorenes Tasten, das Kopflose, Leben ohne Wahl und ohne Wollen. Wir gehen weiter. Zu den Krebsen, den roten, wo man nicht weiß, was vorne und hinten sein soll; ein ganzer Berg, der langsam krabbelt; auch hier: Leben als Verdammnis. Und hinzu kommt das Massenhafte; die Fischer bringen jedesmal so viel, als ihr Kutter eben tragen kann; die unvorstellbare Menge, der Griff ins Zahllose, ins Unerschöpfliche. Ich beobachte ein altes Weiblein, das einen gelben Hummer hält, ungewiß, ob der Kerl wirklich so viel Lire wert ist. Unterdessen sind die Männer schon dabei, ihre braunen Netze auszurollen auf der Mole; andere stehen in den Pinten, trinken, reden über den Streik. Der gelbe Hummer ist dem Weiblein zu teuer; eine junge Dame in Hosen nimmt ihn sofort. Was mich besonders fesselt, ist einfach der Umstand, daß man einmal alles zusammen sieht: Erbeuter, Verkäufer, Verbraucher. Alles ganz konkret. Dazu das abendliche Gebimmel einer alten Kirche, die letzte Sonne auf einem Klosterziegeldach, ein Geistlicher im schwarzen Fladenhut. Zwei ziemlich verlumpte Kinder teilen sich einen Fisch, der nicht mehr so frisch ist; sie zerschneiden ihn auf dem Randstein; nochmals das Schuppensilber, das Wässerige der toten Augen, das perlmutterne Schillern, das Rosa-Stumme im offenen Rachen … An der verpißten Ecke steht wie immer der Bettler, sein Schildchen um den Hals:
»Blind, please help.«
Wenn das gesamte Personal eines Grandhotels streikt, wenn die Gäste sich in die tägliche Arbeit teilen müssen, Betten machen, Kartoffeln schälen, Holz hacken, Teller waschen, Gläser trocknen, Suppe kochen, Suppe mit Brot, solange Brot vorhanden ist, Suppe jeden Tag:
Das als Folie eines Lustspiels?
Wanderung bei glühender Hitze. Ganze Hänge haben gebrannt; eine tote Schlange zwischen verkohlten Stauden: Tanz der Schmetterlinge …
Unterwegs eine Tafel aus Marmor:
»Qui la bellezza del mondo sorrise per l'ultima volta a Francesco Pisani. 8. 9. 1941.«
Endlich ein Grabstein, der das Leben nicht beleidigt; würdig; ohne die obszöne Vertauschung, ohne die feige Verherrlichung des Todes.
Der Streik sei verschoben. Auffallend ist die Verbrüderung unter den Gästen, die sich bisher kaum benickt haben; man kann jetzt nicht im Lift fahren, ohne daß ein Gespräch entsteht, und das Einverständnis scheint ihnen fraglos. Ein Gefühl von Klasse, wie ich es bisher eigentlich nicht geglaubt habe. Man gehört zusammen, ob Italiener oder Engländer, Schweizer, Holländer, Belgier; ob Schieber oder Arzt, ob Offizier auf Urlaub oder Liebespaar oder kleiner Mann mit großer Währung, man fühlt sich gemeinsam belästigt, und zwar zu Unrecht; wir wollen Ferien machen, nichts weiter, wir sind Ausländer und zahlen unsere Sache. Der Wirt, schwarz vom Scheitel bis zur Sohle, steht in der Halle und versichert in allen Sprachen, daß ein Streik überhaupt nicht zustande kommen werde. Auch deutsch spricht er; seine Erinnerung an die Wehrmacht, die er bedient hat, verschafft mir, da ich einigermaßen ihre Sprache rede, eine gewisse Hochachtung, die ich persönlich nie erziele.
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