Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
unsere eigene Einsamkeit, die uns letztlich immer das gleiche Gesicht zeigt, unser Gesicht, das endgültig ist, und über dieses Du hinaus kommen wir nie. Es ist nur so, daß manchmal ein Mensch in dieses Du hineinkommt, kürzer oder länger.
Was man die Untreue nennt: unser Versuch, einmal aus dem eigenen Gesicht herauszutreten, unsere verzweifelte Hoffnung gegen das Endgültige.
Nie werde ich über den Pfannenstiel wandern, ohne daß ich länger oder kürzer an den Dichter denke, den ich von allen zeitgenössischen Landsleuten am meisten liebe, nämlich an Albin Zollinger, der diese Landschaft ein für allemal dargestellt hat. Es war Herbst und vor sechs Jahren, ich hatte eben sein jüngstes Buch gelesen, und Constanze mußte viel darüber hören, als wir diesen Weg hinuntergingen, zum ersten Male zusammen. Ich führteConstanze in die kleine Wirtschaft, die ich schon von mancher Wanderung kannte; es gibt dort einen kleinen Tisch aus Nußbaum, der in einer Fensterecke steht, wo man zusammensitzen und plaudern kann und wunderbar über das Land sieht; ich freute mich, daß ich dieses Tischlein wußte, und da es auch Werktag war, zweifelte ich nicht, daß es uns gehören würde. Groß war die Enttäuschung, als wir die Stube betraten; das Tischlein war bereits von einem Paar besetzt, und natürlich war ich überzeugt, daß sie das Tischlein weniger verdienten als wir. Es schien schon ein reiferes Paar; sie tranken Wein und aßen Schinken, und mein Unmut drängte mich, die Leute zu mustern. Der Mann, der sehr unscheinbar wirkte, aber einen bemerkenswerten Kopf über seinem schlanken Körper trug, konnte niemand anders als Zollinger sein. Wir bestellten ebenfalls Schinken. Da ich ihn immer wieder anzusehen versuchte, kamen wir selber zu keinem Gespräch, sein Gesicht war hart und entschieden, männlich, zart und schüchtern zugleich. Er redete sehr leise. Ich spürte, wie mein Herz klopfte über dem Gedanken, ob ich ihn ansprechen sollte oder nicht. Ihre Teller waren leer, und jeden Augenblick konnte es sein, daß sie aufbrachen. Er trug einen Pullover unter der Jacke; seine ganze Kleidung erinnerte an einen Dorflehrer. Wenn er mit der Wirtstochter abrechnete, hatte er den vertraulichen Ton eines kleinen Mannes, der aus der Nachbarschaft kommt, der es nicht gewohnt ist, daß man ihn bedienen muß; irgendwie ist es ihm nicht recht. Er bat um ein Papier, damit er den restlichen Schinken einpacken konnte; es war in den Kriegsjahren. Unterdessen überlegte ich mir immerzu, was ich ihm, wenn ich ihn anspräche, überhaupt zu sagen hätte. Anderseits hatte ich eine Stunde lang über eben diesen Menschen gesprochen, dessen Werk mich begeisterte; warum sollte ich es ihm verschweigen? Er fragte bereits, wie lange man zum Bahnhof gehe; alles sehr unauffällig. Einmal hatte ich ihn in einer Vorlesung gesehen; irgendwie schien er mir kleiner, da ich ihn aus der Nähe sah, auch jünglingshafter und wie einer, der hinter seiner Verschüchterung jubelt und tanzt, ohne daß die Welt es sehen soll; er kam mir vor wie ein Rumpelstilz, der durch dieWälder geht und meint, niemand kenne seinen Namen, niemand kenne seine Visionen. Als er dann den letzten Schluck aus seinem Gläschen kippte, hörte ich plötzlich mich selber sagen:
»Verzeihen Sie –«
Befremdet wendet er sich um.
»Sie sind doch Albin Zollinger –«
»Ja«, sagte er: »Warum?«
Jubel und Tanz schienen aus seinen Augen verschwunden; das Verschüchterte, das er mindestens seit unserem Eintreten hatte, steigerte sich fast zur Abwehr, mindestens zur Miene eines lauernden Mißtrauens. Ich sagte, daß ich eben sein letztes Buch gelesen hätte. Seine Miene wartete ohne viel Zuversicht. Es sah nicht ermunternd aus. Aber irgendwie mußte ich ja fortfahren, und da ich schon einmal über ihn geschrieben hatte, sagte ich ihm, wie ich heiße. Das Peinliche, daß ich als der Jüngere, der seinerseits nichts vorzuweisen hatte, den reifen Mann auszeichnete, wurde mir durchaus bewußt, und irgendwie begriff ich seinen Irrtum, daß er mich beharrlich als Herr Doktor anredete. Was den Augenblick rettete, war seine rührende Freude; er blickte wie ein Jüngling, der zum erstenmal ein ganzes Lob vernimmt, oder mindestens schien er glücklich, daß ihm nicht eine grobe Mißdeutung begegnete. Er redete dann über Thomas Mann, den er als Meister der Akkuratesse bezeichnet, über die Grenzen sprachlichen Ausdrucks, über die erschreckende Erfahrung, daß jeder Versuch, sich
Weitere Kostenlose Bücher