Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
war.
Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.
Schlafen legte ich mich unter die Mörder.
Der Liebe pflegte ich achtlos,
und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit,
die auf Erden mir gegeben war.
Die Straßen führten mich in den Sumpf zu meiner Zeit.
Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit,
die auf Erden mir gegeben war.
Die Kräfte waren gering. Das Ziel
lag in großer Ferne.
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit,
die auf Erden mir gegeben war …«
Wie Brecht uns dieses Gedicht vorgelesen hat: schüchtern, nicht verkrampft, er ist kein andrer als zuvor und nachher, seine Stimme ist leise, ohne Veränderung seines mundartlichen Klanges, fast lispelnd, aber deutlich und genau vor allem im Rhythmus, scheinbar ohne Betonung, sachlich, Worte zeigend, wie man Kieselsteine zeigt, Gewebe oder andere Dinge, die für sich selbst sprechen müssen; Haltung eines Mannes, der, seine Zigarre rauchend, genötigt ist, einen Text abzulesen, einfach weil nicht jedermann diesen Text in der Hand hat; ungefähr wie man einen Brief vorliest: mitteilend. Und es stört nicht, wenn es klingelt,wenn ein weiterer Besuch kommt oder wenn die Tochter, da es keinen andern Weg gibt, durchs Zimmer geht. »Ich lese«, sagt er zu dem Ankömmling: »gerade ein Gedicht; es heißt: An die Nachgeborenen.« Sagt es, damit dieser mit seinem Gespräch noch wartet, und liest weiter, mitteilend, was weiter er den Nachgeborenen sagen möchte:
»Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut,
in der wir untergegangen sind,
gedenket,
wenn ihr von unseren Schwächen sprecht,
auch der finsteren Zeit,
der ihr entronnen seid.
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd,
durch die Kriege der Klassen, verzweifelt,
wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir ja:
auch der Haß gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
macht die Stimme heiser. Ach, wir
die wir den Boden bereiten wollten für die Freundlichkeit,
konnten selber nicht freundlich sein.
Ihr aber, wenn es soweit sein wird,
daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist,
gedenket unsrer
mit Nachsicht.«
Die übliche Pause, die nach Vorlesung eines Gedichtes einzutreten pflegt, da wir, sozusagen aus der Kirche tretend und plötzlich ohne Orgel, etwas geblendet in die Welt zurückkehren müssen, die halt sehr anders ist als die Poesie – diese Pause ist nicht nötig; das Gedicht, das wirkliche, hat die wirkliche Welt nicht zu scheuen; es hält stand, auch wenn es klingelt und ein unvermuteterGast kommt, der, während wir noch den gleichen Kaffee in der Tasse haben, von seiner vierjährigen Kerkerzeit berichtet …
»Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!«
Nicht alle seine Gedichte haben dieses Standhaltende, dieses Jederzeit-Sagbare. Die Schwäche der andern, finde ich, ist freilich nicht das Nur-Ästhetische, aber das Nur-Ideologische, eine andere Art, nicht wirklich zu sein.
»Wirklich sein.«
Wirklich, würde ich sagen, ist Goethe. In den Maximen und Reflexionen genügen oft vier Zeilen. Am Ausgang steht eine Feststellung, es folgt die Geburt eines Gedankens, so zwingend und eindeutig, daß man schon auf die Knie geht, um seine Dienste anzubieten, und dann, wo unsereiner es nicht verkneifen könnte, Schlüsse zu ziehen, die jeden Zweifel überrennen, Schlüsse, die einem Kreuzzug gleichkommen, geschieht das Unerwartete, das Gegenteil einer Zuspitzung: er stellt dem Gedanken, ohne ihn zu widerrufen, eine Erfahrung gegenüber, die eher widerspricht, mindestens eindämmt, eine Erfahrung, die der gleiche Kopf, der eben jenen Gedanken geboren hat, ebenfalls gelten läßt, einfach weil es eine Erfahrung ist, eine lebendige, eine wirkliche. Das ist das scheinbar Versöhnliche seiner Reflexionen, daß sie fast immer Licht und Schatten zeigen. Scheinbar; denn sie versöhnen den Widerspruch keineswegs. Sie halten ihn nur in der Balance, in einem Zustand wechselseitiger Befruchtung, Balance zwischen Denken und Schauen. Nichts geht ins Tödliche, weil es die widersprechende Erfahrung nicht überrennt, nicht übermütig unterjocht, sondern die Kraft hat, sie aufzunehmen – die Kraft, wirklich zu bleiben, oder genauer: immer aufs neue wirklich zu werden.
Letzigraben
Nun haben sie doch einen
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