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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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gefunden! – Skelett eines Hingerichteten, denn der Schädel hat gefehlt, wahrscheinlich hat er ihn zwischen den Füßen, wie es Brauch war. Das Skelett lag nur halbwegs in dem Graben, und da wir ein ökonomisches Zeitalter sind, haben sie seinetwegen den Graben nicht einen Zentimeter verbreitert. Ein Spaten und ratsch! zweimal ratsch! Unter den Knien haben sie ihn abgehauen – zwei Knochen verschwinden im Lehm … Sie finden mich komisch, daß ich den Anruf, den verlangten, auch in einem solchen Fall erwartet habe, versichern etwas mürrisch, daß keine goldenen Münzen und Ketten dabei gewesen seien. Nebenan finde ich noch einige Rippen, ein Schulterblatt. Wenigstens den Schädel, den ich gern besessen hätte, wollen wir ihm lassen.

Unterwegs
    Jeder Gedanke ist in dem Augenblick, wo wir ihn zum erstenmal haben, vollkommen wahr, gültig, den Bedingungen entsprechend, unter denen er entsteht; dann aber, indem wir nur das Ergebnis aussprechen, ohne die Summe seiner Bedingungen aussprechen zu können, hängt er plötzlich im Leeren, nichtssagend, und jetzt erst beginnt das Falsche, indem wir uns umsehen und Entsprechungen suchen … (Denn die Sprache, selbst die ungesprochene, ist niemals imstande, in einem Augenblick alles einzufangen, was uns in diesem Augenblick, da ein Gedanke entsteht, alles bewußt ist, geschweige denn das Unbewußte)… so stehen wir denn da und haben nichts als ein Ergebnis, erinnern uns, daß das Ergebnis vollkommen stimmte, beziehen es auf Erscheinungen, die diesen Gedanken selber nie ergeben hätten, überschreiten den Bereich seiner Gültigkeit, da wir die Summe seiner Bedingungen nicht mehr wissen, oder mindestens verschieben wir ihn – und schon ist der Irrtum da, die Vergewaltigung, die Überzeugung.
    Oder kurz:
    Es ist leicht, etwas Wahres zu sagen, ein sogenanntes Aperçu, das im Raum des Unbedingten hängt; es ist schwierig, fast unmöglich, dieses Wahre anzuwenden, einzusehen, wieweit eine Wahrheit gilt.
    (Wirklich zu sein!)

1948
Wien, Januar 1948
    Liegt es an der Stadt, liegt es an mir, daß ich bereits eine Woche lang hier bin, ohne wach zu werden? Ein eignes Stück anzusehen, wird selten ein Genuß sein, selbst wenn es das Theater in der Josephstadt ist, ein so liebreizendes Theater, graziös wie das Lusthaus eines Erzherzogs, unöffentlich, gesellschaftlich wie ein Hauskonzert von Menzel, und dann der Kronleuchter, der langsam in die Höhe entschwebt, wenn der Vorhang sich teilt, langsam verlöschend … Ein einfacher Gastwirt, verliebt in die Musen, habe seinerzeit dies Haus erbauen lassen, ein Biedermann, man sieht ihn schon in einem grauen Zylinder und einem grünen Fräcklein, denke ich. Beethoven hat die Musik zur Eröffnung verfaßt. Was hat man auf diesen Brettern nicht alles gespielt! Das süße Hobellied von Raimund, hier wurde es zum erstenmal gesungen. Ein lustiges, ein reiches, ein glanzvolles Jahrhundert hangt wie der Kronleuchter über unseren Köpfen, langsam entschwebend, langsam verlöschend …
     
    Man ist entzückend. Eine Unbekannte, eine kindliche Dienstmädchenhandschrift hat mich als erste empfangen: Meister! heißt es in dem blauen Brieflein, und alles kommt aus purem Herzen; leider habe sie mein herrliches Werk, dessen fünfundzwanzigste Aufführung wir durch unsere persönliche Anwesenheit zu weihen geruhen, nicht gesehen, doch werde sie es nicht versäumen; sie begrüßt mich im Namen von Wien: Möge Ihnen, verehrter Herr, unsere Stadt gefallen! Man ist entzückend. Beim Ausgang stellt mich eine Dame, die es eben zum viertenmal gesehen hat; sie muß mich sehen, sie muß, unterdessen unterhalten wir uns, wie sie weiterleben soll, wenn das Büchlein in österreichischen Landen nicht erhältlich ist. Das beste wird sein, wenn ich es ihr schenke; sie greift meine Hand, ich weiß, sie wird mich ihr Leben lang nie vergessen; leider ist sie schon sehr alt.Doch die andern, die wenig von dir halten, sind nicht minder entzückend; keiner sagt ein kritisches Wort, nie geradezu, jeder wohnt in einem undurchdringlichen Charme, worin er sich wohlfühlt, und wer sich wohlfühlt, ist duldsam. Aber geh! Das ist die Zauberformel, die alles Unwohle bannt. Aber geh! Hier wird die Sintflut stehenbleiben, zerrinnen, vor so viel Wärme des Gemütes einfach verdampfen. Wien bleibt Wien. Wie es anderswo aussieht, was kann es sie kümmern? Sprich nicht von anderen Städten; sei glücklich, daß du in Wien bist. Was ist schon passiert? Sogar die Deutschen, die einzig daran

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