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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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oberflächlich gepflegt; wenn man sie und die Jungens betrachtet, die rittlings auf den Sesseln hocken, kauend, unhöflich über jeden Vergleich hinaus, weiß man wirklich nicht, wen man mehr bedauert. Im marmornen Hintergrund, wo sich die Öde in hohen Spiegeln vervielfacht, steht ein alter Kellner, der noch Schnitzler bedient haben könnte, mindestens Karl Kraus, wartend mit mehrfach gewundener Serviette. Einer ist natürlich der Spaßmacher, die andern lachen, und die Bummerl stehen noch immer wie Maultiere, wenn der Bauer in die Wirtschaft geht, um einen zu kippen. Ihr offenes Geheimnis, scheint es, hat etwas Trennendes; sie unterhalten sich kaum miteinander, versuchen, einander nicht zu sehen. Das alles hat etwas sehr Armes. Später bekommen sie zu essen; der Kellner, der weißhaarige, wahrt die Formen, benimmt sich wie auf der Bühne: als ob. Die Burschen, die ihre Beine von sich spreizen, in das rote Polster lehnend, das etwas zerschlissene, sie haben schon in der Messe gegessen; sie rauchen nur noch, wortlos, während die kleinen Mädchen sich stärken. Ich finde einen einzigen, der schäkert, nicht besonders nett, nicht reich an Einfällen, immerhin mit Anzeichen eines Verliebten; er erscheint wie ein Gott unter einer Herde von Vieh … Scheußliche, aberzwanghafte Vorstellung von den Paaren, wenn sie später allein sind; im übrigen froh, nicht sehen zu müssen, wie unsere Soldaten sich unter gleichen Umständen benehmen würden: in Uniform und in der Fremde, wo niemand den einzelnen kennt.
    Nachher zu Mozart.
    Uniformen auch hier, Franzosen mit steiler Mütze, ein Brite, der das Gedränge überragt, Damen mit langen Kleidern und Pelz, Amerikaner, Wiener, Fremde, Schieber, Russen mit Stiefeln und breitem Gesicht –
    »Zauberflöte.«
     
    Nochmals im Atelier von Wotruba, der als Emigrant lange in der Schweiz gelebt hat; erst hier lernen wir uns kennen. Nicht der einzige, doch einer der wenigen Bildhauer unsrer Tage, der wirklich haut, nicht knetet, auch nicht in den Stein überträgt, sondern vom Stein selber ausgeht, was einfach etwas Wunderbares ist, etwas wie die Darstellung des schöpferischen Unterfangens überhaupt. Seine jüngeren Arbeiten wahren das Urgesteinhafte oft in einem Grad, daß man, die Figur betrachtend, einen Eindruck von andauernder Geburt hat. Ein roher Block, eine begonnene Gestalt, die man, den Steinstaub wischend, mit Fingern befühlt, zwei oder drei Figuren, die im Gartenhof stehen – es genügt, um das Mumienhafte einer ganzen Stadt aufzuwiegen. Der Künstler, wie subjektiv er sich auch immer ausdrückt, hat auf eine geheimnisvolle Weise etwas Allgemeines; sein schöpferisches Bedürfnis, sein bloßes Dasein, sein Versagen, sein Gelingen, sein persönlich bestimmtes Streben erscheint uns wie ein Zeichen dafür, daß es ringsum steht im Unsichtbar-Allgemeinen. Etwa so: Das Ganze kann doch keine Mumie sein, da ist ein Lebendiger, der meißelt, Neues wollend –.
     
    Denke hier oft an Berlin. Verwandtschaft der geschichtlichen Lage; Stadt mit vier Besatzungen. Es fällt mir auf, daß niemand etwas hören will von Berlin, auch nichts Fachliches, etwa Theater; ihre Miene wird dann so unneugierig, als berichte man von einem fernen Dorfkram. Die Schnurre, daß jede Stadt sich für dieWeltmitte, mindestens für die Mitte ihres Sprachraumes und also für die Mitte menschlicher Kultur hält, hat Hintergründe, die nicht mehr schnurrig sind … Morgenschwatz mit einem Kellner, den ich frage, welche Besatzung ihm am meisten auf die Nerven gehe. Am besten die Engländer. Zwischen den andern wolle er nicht die Hand umdrehen. Lebhaft vermehrt er meine Kenntnis an Übeltaten. Da ich schweige, dem spärlichen Frühstück hingegeben, setzt er hinzu:
    »Jaja, die andern haben natürlich auch einiges geleistet. Das schon. Aber für uns ist es halt arg –.«
    »Welche andern?«
    »Die Deutschen.«
    Das ist hier der allgemeine Dreh …
    In Berlin fühle ich mich wohler.
     
    Charme, zur Haltung gemacht, ist etwas Fürchterliches. Waffenstillstand mit der eignen Lüge. Daher das Kampflose, Müde, Mumifizierende.
     
    Der Sturm (offenbar über ganz Europa) hat zahlreiche Bäume geknickt, es scheppert von Firmenschildern, Ziegelsteine fallen aus den Ruinen, zwei Leute wurden so getötet, nebenan in der Ruine flattert ein eiserner Rolladen, den niemand holen kann, er poltert, knallt und hallt und flattert wie eine Fahne von braunem Rost.
    Auf dem Heimweg alle Arm in Arm.
    Eine junge Frau, deren

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