Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
wenn man mit Löhnen rechnet, aber billig, wenn man mit Zigaretten rechnet. Ein kleiner Buddha, ein schöner, für fünfhundert Zigaretten. Hundert Schritte weiter stehen die sogenannten Trümmerweiber, die sich mit Schaufel und Eimer gegen das Unabsehbare verbrauchen. Es wirkt nicht wie Arbeit, sondern wie Strafkolonie. Vierzig Mark in der Woche, dassind vier Zigaretten. Natürlich sind es nicht die Leute, die diese Ruinen verschuldet haben. Die sitzen in geheizten Gefängnissen, genährt, gesunder als alle andern, oder in ihrem Landhaus …
»Hier tut sich was.«
Es ist nicht zu leugnen, daß es Stunden von prickelnder Begeisterung gibt, viele versichern, daß sie nirgends anders leben möchten, insbesondere Künstler, und das ist keine Ausrede. Wer liebt den Ort nicht, wo er eine Rolle spielt? Viele spielen eine größere, als sie es sich hätten jemals träumen lassen, walten über Stätten, die man noch immer, gleichviel wer sie verwaltet, mit Ehrfurcht betritt, und das ist ja gut so; der Ruhm ist eine Brücke, die sich streckenweit auch ohne Pfeiler trägt. Streckenweit. Mancher hält sich zwar für einen Pfeiler, einfach weil es keine anderen gibt. Die Arbeit, die aus solchem Ansporn wächst, ist erstaunlich, oft übermenschlich als Anstrengung; hinzu kommt das natürliche, oft fieberhafte Bedürfnis, verlorene Jahre einzuholen. Es ist jetzt wichtig, mit älteren Menschen zu sprechen; die Gegenwart hat kein Maß. Man müßte jetzt einen Begleiter haben wie Wölfflin. Das letzte Maß, das die meisten haben, ist bereits aus der Hitlerzeit. Der Ausfall an Menschen ist überall spürbar, und wenn es auch erklärlich ist, daß jede geschichtliche Ablösung zuerst einen gewissen Rückschritt bringt, schon weil den neuen Männern jahrzehntelang die fachliche Übung versagt war, so hat der Zustand doch etwas Melancholisches, sogar etwas Gefährliches; wir werden stets versucht sein, daß wir schließlich das Beste, was wir in unsren Tagen antreffen, bereits für das Gute halten …
Das Nein ist eingetroffen.
Gestern im Kabarett, aber ich finde die Berliner, wenn man sie auf der Straße oder in der Untergrund hört, unvergleichlich witziger. Selbstmitleid gibt kein Kabarett. Es ist so überflüssig, mit dem Strom zu schwimmen, und ein Kabarett, das nicht seine Zuhörer attackiert, was soll es? In den Logen aber sitzen die Uniformender Besatzung; ich frage mich, was unseren Kabaretts beispielsweise unter deutscher Besatzung andres übrig geblieben wäre – als ebendies: Verzicht auf jede Selbstkritik …
Letzter Abend.
Unterwegs in eine Pinte mit Musik und Wasserbier, Kellner spielen ihre Rolle mit verklecksten Westen. Ich habe Hunger. Heißgetränk mit Rumgeschmack. Das Lokal erinnert an Wartesäle; nicht allein wegen der Rucksäcke. Alle wie von einem schlechten Zeichner, der keine Sitzenden zeichnen kann. Selbst wenn sie anlehnen, sind sie nicht da. Rast der Lemuren. Von der Decke herunter, die von marmornen Säulen getragen wird, hangen die nackten Glühbirnen. Reste von weißem Stuck, darunter das übliche Schilfrohr. Auch hier riecht es nach Abort. Dazu der etwas groteske Frack eines Klavierspielers, dem die Schwindsucht bereits auf den Handgelenken sitzt –
Abfahrt von Lichterfelde.
Ein amerikanischer Major weigert sich, im gleichen Abteil zu schlafen mit einem Neger, der ebenfalls die amerikanische Uniform trägt. Der deutsche Schaffner, ein Schwabe, soll dafür sorgen, daß der schwarze Sieger anderswo verstaut wird. Der Schaffner nickt, wie wenn man sagt: Verstehe, verstehe, darüber müssen wir nicht reden! dann pirscht er durch den Korridor, nicht ohne ein schadenfrohes Grinsen, das er uns nicht verheimlicht, es richtet sich nicht gegen den Neger. Nur so; Rassenfrage, Umerziehung. Der Neger, ein junger Sergeant, steckt sich unterdessen eine Zigarette an, um etwas zu begründen, warum er draußen im Korridor steht. Er starrt durch die verregnete Scheibe, obschon es draußen Nacht ist, nichts als Nacht. Als der schwäbelnde Schaffner zurückkommt und ihm bedeutet, wo er schlafen dürfe, nickt er, ohne den Schaffner, der die Nummer wiederholt, anzusehen. Er bleibt stehen, raucht weiter, blickt in die schwarze Scheibe …
(Die Weltgeschichte ist noch nicht zu Ende.)
Langer Halt in der Nacht, Bahnhof ohne Dach, nirgends einSchild, aber viel Volk auf Bündeln und Schachteln, es regnet in Strömen. Zonengrenze? In einer Zeitung lese ich, daß Wolfgang Borchert, die Hoffnung unter den
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