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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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jungen deutschen Dichtern, in Basel gestorben ist.

Letzigraben
    Es gibt so wenig Leute, die es nicht früher oder später ausmünzen, wenn man seine Fehler zugibt, und versuchen, uns zum Esel zu machen und auch mit ihren Fehlern zu beladen … Und dann, wenn der Esel plötzlich ausschlägt, sind sie einen Augenblick lang ganz erstaunt, nur einen Augenblick lang; kaum haben sie wieder Luft, erinnern sie dich ganz unverfroren an die Fehler, die du selber einmal zugegeben hast – als Beweis, daß du es bist, der die Fehler macht.

Nachtrag
    Die Geschichte mit dem russischen Oberst und der deutschen Frau: das Ganze hat drei Wochen gedauert. Die Frau ist ohne jeden Zweifel, daß es auch von seiner Seite eine wirkliche Liebe gewesen ist; für sie ist es die Liebe ihres Lebens –
    Was mich an dem Fall fesselt:
    Daß er eine Ausnahme darstellt, ein Besonderes, einen lebendigen Widerspruch gegen die Regel, gegen das Vorurteil. Alles Menschliche erscheint als ein Besonderes. Überwindung des Vorurteils; die einzig mögliche Überwindung in der Liebe, die sich kein Bildnis macht. In diesem besonderen Fall: erleichtert durch das Fehlen einer Sprache. Es wäre kaum möglich gewesen, wenn sie sich sprachlich hätten begegnen können und müssen. Sprache als Gefäß des Vorurteils! Sie, die uns verbinden könnte, ist zum Gegenteil geworden, zur tödlichen Trennung durch Vorurteil. Sprache und Lüge! Das ungeheuere Paradoxon, daß man sich ohne Sprache näherkommt. Und wichtig scheint mirauch, daß es eine Frau ist, die diese rettende Überwindung schafft; die Frau: konkreter erlebend, eher imstande, einen einzelnen Menschen als solchen anzunehmen und ihn nicht unter einer Schablone zu begraben. Sie geht zu einem Russen, einem Feind, sie hat bereits eine Waffe unter ihrem Kleid, aber da sie einander nicht verstehen können, sind sie gezwungen, einander anzusehen, und sie ist imstande, wirklich zu sehen, den einzelnen Menschen zu sehen, wirklich zu werden, ein Mensch zu sein gegen eine Welt, die auf Schablonen verhext ist, gegen eine Zeit, deren Sprache heillos geworden ist, keine menschliche Sprache, sondern eine Sprache der Sender und eine Sprache der Zeitungen, eine Sprache, die hinter dem tierischen Stummsein zurückbleibt. Der Turm zu Babel; wenn es an der Zeit ist, daß uns diese Art von Sprache entrissen wird. Ich finde in dieser Frau, was an so vielen Frauen, die ich gesprochen habe, und an tausend Frauen in der Untergrundbahn zu finden ist: sie ist heiler als die Männer, wirklicher, in ihrem Grunde minder verwirrt.

Zur Lyrik
    Man klagt, daß unsere Poeten nicht ernst genommen werden, vor allem die lyrischen – klagt mit verhaltenem Vorwurf an die Welt, verhalten durch das bittere Pathos, daß das Schicksal, das unsere Lyrik trifft, nun einmal das Schicksal des Geistes überhaupt sei – klagt, statt daß man es in Ordnung findet.
    Schicksal des Geistes?
    Ein Mann, der seinen Geist verwendet, um Brücken zu bauen oder den Krebs zu bekämpfen oder Atome zu erforschen, wird durchaus ernst genommen. Er tut, was er weiß; er arbeitet mit dem Bewußtsein unsrer Welt und unsrer Zeit. Man denke sich einen Ingenieur, der genau weiß, daß es die kommunizierende Röhre gibt; aber wenn er baut, siehe da, schiebt er sein Wissen zur Seite und baut wie die alten Römer, nämlich Aquädukte – man würde ihn einsperren, mindestens entlassen … Die Poeten, wenn sie Poesie machen, die hinter ihrem und unserem Bewußtseinzurückbleibt, sperrt man nur darum nicht ein, weil der Schaden, den sie anrichten, nur sie selber trifft; sie entlassen sich sozusagen selber: indem kein Zeitgenosse, kein bewußter, sie ernst nehmen kann.
     
    Im Gegensatz zur englischen und französischen Sprache, die eine moderne Lyrik haben, gibt es offensichtlich wenig deutsche Gedichte, die nicht antiquarisch sind – antiquarisch schon in ihrer Metaphorik; sie klingen oft großartig, dennoch haben sie meistens keine Sprache: keine sprachliche Durchdringung der Welt, die uns umstellt. Die Sense des Bauern, die Mühle am Bach, die Lanze, das Spinnrad, der Löwe, das sind ja nicht die Dinge, die uns umstellen. Das Banale der modernen Welt (jeder Welt) wird nicht durchstoßen, nur vermieden und ängstlich umgangen. Ihre Poesie liegt immer vor dem Banalen, nicht hinter dem Banalen. Keine Überwindung, nur Ausflucht – in eine Welt nämlich, die schon gereimt ist, und was seither in die Welt gekommen ist, was sie zu unsrer Welt macht, bleibt einfach außerhalb

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