Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
erreiche, und überanstrengt mich. Meistens braucht es nicht einmal eine Versöhnung; mein Haß wird mit der Zeit zu kostspielig, das ist alles, mit der Zeit steht er in keinem Verhältnis zu der betreffenden Person, die mir eigentlich, was immer sie getan haben soll, gleichgültig geworden ist … Anders ist es mit dem Haß, der sich nicht auf eine Person bezieht, sondern auf ein Kollektiv oder insofern auf eine Person, als sie ein Kollektiv repräsentiert. Mein einziger lebenslänglicher Haß: Haß auf bestimmte Institutionen. Da wird der Haß selbst eine Institution. Auch da schädigt der Haß vor allem mich selbst, aber ich bleibe meiner Selbstschädigung treu, weil dieser Haß sich als Gesinnung versteht und Gleichgültigkeit wie Versöhnung ausschließt –
Man ist bewegt, hilft, gibt Rat und Möbel und Geld; das Bewußtsein persönlicher Ohnmacht gegenüber der Zeitgeschichte läßt uns die Gelegenheit ergreifen, wo man etwas tun kann: man geht ans Telefon und zaubert Verbindungen, erreicht auch etwas, verspricht zwar keineWunder, aber man ist da – das täuscht die Flüchtlinge immer in der ersten Zeit. Jetzt haben sie eine Wohnung, sogar einen Job, nach einem halben Jahr fühlen sie sich einsam; ihr Problem bleibt nicht unser Problem.
Uraufführung TURANDOT ODER DER KONGRESS DER WEISSWÄSCHER , Regie: Benno Besson. Warum in Zürich? Die Parabel stimmt weder für den westlichen noch für den östlichen Teil so recht, gibt aber wie jede Parabel vor, irgendeinen Nagel auf den Kopf zu treffen. Was für den Westen, den Brecht gemeint hat, nicht stimmt: Wir nämlich werden nicht zu Kongressen befohlen, um beispielsweise den Vietnam-Krieg gutzuheißen, wir können sogar protestieren, ohne enthauptet zu werden – nur nützt unser Protest eben nichts, im Gegenteil, unser Protest attestiert den Machthabern bekanntlich, daß sie tolerant sind. Wie weit stimmt sie im Osten, diese Parabel von den Tuis, die anzutreten haben zum ideologischen Applaus für den Einmarsch in die Tschechoslowakei? Bekanntlich hat Brecht, als er das Stück zu schreiben begann, die Intellektuellen unter dem Faschismus gemeint; warum hat er's nicht zu Ende geschrieben und auf der Bühne erarbeitet? Sein China-Chicago liegt wie immer vor dem Sozialismus, der eben erst im Anmarsch ist, also unschuldig wie der alte Bauer mit dem Kind, der, pfiffig aus gesundem Menschenverstand, verstanden hat, was im Büchlein steht. (Es müßte ein rotes Büchlein sein, aber das geht jetzt nicht mehr …) Das Stück läßt keinen Zweifel: Die Wahrheit kommt, die Wahrheit siegt, Vorhang, als kämen die Intellektuellen nicht mehr in Schwierigkeit mit der Wahrheit nach dem Vorhang. Leider weiß der Zuschauer inzwischen zuviel. Der sprichwörtliche Brotkorb, der, sobald du den Machthabern nicht huldigst, schwupps in die Höhe geht: wie wahr, wie wahr! –schon ein Entzug des Passes, Ausschluß aus der Partei, Verbannung in ein Arbeitslager oder Einlieferung in eine Irrenanstalt (weil du den Machthabern nicht huldigst) wären so simpel-allegorisch nicht darzustellen. Überhaupt dieses Kinder-Theater für Intellektuelle. Wenn ich die abgeschlagenen Köpfe auf der Mauer sehe, weiß ich natürlich, welche Köpfe nicht gemeint sind; sie fallen mir trotzdem ein. Und da hilft kein Matterhorn-Plakat, wie Benno Besson es an die Wand wirft, um Mißverständnissen zu wehren. Aber Zürich hat gejubelt; das tut keine Gesellschaft, die sich entlarvt sieht. Es war schlimm, ein Theater-Ereignis. Schon durch die Zuversicht, daß es dann im Sozialismus kein Tui-Problem mehr gebe, wirkt alles antiquiert. Es ist eine Sache mit der Parabel –
ZÜRICH, Februar 1969
Brandstiftung in der Telefon-Zentrale Hottingen. Der Täter namens Hürlimann, seit Jahrzehnten angestellt bei der PTT und Kenner der Anlage, hat die Brandherde so verteilt, daß die Brandwache nicht mehr viel hat verhindern können; das Gebäude ist erhalten, aber die meisten Kontakt-Anlagen sind ausgebrannt. Schlagzeilen melden Riesenschaden; vor allem wird es mehrere Wochen dauern, bis die Telefon-Zentrale wieder funktioniert. Der Täter, der sich sofort der Polizei gestellt hat, scheint mit seiner Tat zufrieden; ein erstes psychiatrisches Gutachten schildert ihn als bisher ordentlichen Mechaniker, als älteren Familienvater, als kontaktarm. Er gesteht, daß seine Arbeit ihn anödete; ferner kränkte ihn in letzter Zeit auch das Ausbleiben einer Beförderung; es wurde ihm ein jüngerer
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