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Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Die Männer, die diesen Korps-Geist ausgebildet haben, bleiben im Amt.
     
     
    BERZONA
     
    Einmal im Flugzeug meinte ich, daß ich das Haus erkenne: ein graues Klötzchen in einem Nebental. Es tat mir leid; es steht oft ohne Bewohner. Dann bewahrt es unsere Bücher, die zivilen Dokumente, Briefe, Notizen, das Geschirr, auch Wein. Kommt man eines Tages wieder, so schaut es sehr sachlich. Alles noch da. Es erzählt nichts. Vermutlich hat ab und zu das Telefon geklingelt. Es ist nicht eingestürzt, nur eine Stunde lang unglaubwürdig: Hier also hausen wir. Winter südlich der Alpen: Schneewasser rinnt über Granit, der durch die Nässe violett-schwarz wird; dazwischen das verwelkte Farnkraut, Stämme von Birken, Schnee auf den Höhen, darüber Mittelmeer. Auf Wanderungen trifft man jetzt keinen Menschen, ab und zu ein paar Ziegen; die Bäche sind vereist, aber an der Sonne ist es warm. Nirgends kann es jetzt schöner sein. Ohne die Gäste, die je an unserem Granit-Tisch gegessen oder im Haus geschlafen haben, wäre es nicht unser Platz; es bliebe eine Landschaft – sehr schön an einem Tag wie heute.
     
     
    LESERBRIEFE ZU ARTIKELN
     
    »Meinen Sie vielleicht, daß der Vietkong keine Morde verübt?« / »Wenn Sie die USA meinen kritisieren zu müssen, warum wohnen Sie denn nicht endlich in einem kommunistischen Land, wenn Sie dort alles wunderbar finden?« / »Sind Sie denn überhaupt ein Schweizer?« / »Ist der Verfasser dieses Artikels bereit uns Neutrale in einem nächsten Aufsatz über die wahren Verhältnisse und die Tätigkeit auf der andern Seite aufzuklären?« / »– weiß ich von Lenin nur einen Satz, aber der stimmt: die nützlichen Idioten. So einer sindSie genau. Wie lang noch?« / »Das ist die sogenannte Jugend, die Ihresgleichen unterstützt, Kriminelle, Vorbestrafte, Homosexuelle, Asoziale, Tagediebe. Dafür zahlen wir Steuern.« / »Daß Sie auch noch ein Wort einlegen für die Dienstverweigerer, war ja nach allem zu erwarten.« / »Ihr ganzer Artikel ist Dreck, aber Sie verdienen einen Haufen Geld damit, und das ist Ihnen die Hauptsache.« / »Sauhund! Sie sind ein verreckter Sauhund! Mit Ihrem Schwanz soll man beim Globus die Möwen füttern! Sie ekelhafter Idiot, aber Ihre Hütte wird bald in Flammen stehen! Sauhund!« / »Warum immer nur Kritik?« / »Die amerikanischen Soldaten in Vietnam sterben nämlich auch für Sie, Herr Frisch, das vergessen Sie offenbar, als Neutrale haben wir daher überhaupt kein Recht –« / »Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie ein richtiger Schuft des geistigen Lebens sind, auch wenn man sich angesichts des Guten, das Sie auch noch haben, dieses Eindrucks wirklich erwehren möchte. Soviel Zersetzendes und Verneinendes ist in einer solchen Zeit und Welt einfach unverantwortlich … Das widerliche, perfide, unterminierende Wesen, das Sie zeigen, deutet auf einen unedlen Charakter, von dem man spüren muß: Mit ihm läßt sich nicht reden.«

Hass
    Wenn ich gerade Bilanz machen müßte: – keine Person, die ich im Augenblick hasse; nur etliche, denen ich nicht begegnen möchte, da es sein könnte, daß es nochmals zum Haß kommt. Ich hasse nicht selten, aber kurzatmig. Vielleicht ist es meistens nur Zorn. Kein Fall von lebenslänglichem Haß. Vor allem meine ich sicher zu sein, daß mein Haß mich mehr geschädigt hat als sie, die ich haßte. Haß als Stichflamme, die plötzlich erhellt; aber dann verdummt er mich. Vielleicht kommt es daher, daß dem Hassenden eher an Versöhnung gelegen ist als dem Gehaßten. Wenn ich feststelle, daß jemand mich haßt, kann ich mich leichter entziehen; ich halte mich eben an andere,die mich nicht hassen. Trotz einer natürlichen Dosis von Selbsthaß bin ich vorerst irritiert, wenn ich mich von jemand (ohne daß ich ihm ein Bein gestellt hätte) gehaßt finde. Habe ich mit Sympathie gerechnet? Eigentlich nicht. Was irritiert, ist die unerwartete Intensität einer einseitigen Beziehung; der Reflex ist nicht Gegen-Haß, vielleicht Verwirrung, vor allem aber Wachheit. Ich habe das Gefühl, er fördere mich (zu einem gewissen Grad) durch Wachheit, oder ich kann den Hassenden vergessen. Umgekehrt nicht; als der Hassende halte ich mich an den Gehaßten, und es hilft mir nichts, daß er sich entzieht, im Gegenteil. Je seltener ich ihn sehe oder von ihm höre, um so gründlicher mein Haß, d.h. meine Selbstschädigung. Ferner stelle ich fest: Haß auf eine Person nötigt mich zu einem Grad von Gerechtigkeit, den ich nie

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