Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
selbst überlegen?
f.
kühner als sonst?
g.
frei von Selbstmitleid?
h.
aufrichtiger als sonst?
i.
lebensdankbar?
26.
Gesetzt den Fall, Sie glauben an einen Gott: kennen Sie ein Anzeichen dafür, daß er Humor hat?
5. 3. 1969
Ganzer Tag vor dem deutschen Fernsehen. Wahl des Bundespräsidenten. Gesichter in ihrem Image-Krampf vor der Kamera: nach dem ersten Wahlgang, nach dem zweiten Wahlgang. CDU gibt sich locker-munter, wie Herren sich im Urlaub treffen, eigentlich gäbe es Dringlicheres alsdieses Urnenspiel, nur muß das heutzutage der Demokratie zuliebe auch sein, Gedränge in den Wandelhallen, im Gedränge nicht vergessen, daß die Fernseh-Wähler vielleicht gerade zuschauen, die Umständlichkeit so eines Verfahrens verdrießt sie nicht, Partie mit sicherem Ausgang, so Gott will, und man hat von Gott nichts Gegenteiliges gehört, der erste Wahlgang ist wie erwartet (wenn auch etwas knapp) überstanden, Kanzler Kiesinger wie gewohnt, Schmunzelvater, Minister Heck und die andern CDU-Herren zeigen ein spürbares Entgegenkommen, wenn sie sich auf Abstimmung einlassen. Gegen Abend endlich das Ergebnis: also doch Heinemann. Nach der Niederlage, die Kanzler Kiesinger als demokratisches Ergebnis hinzunehmen sich ausdrücklich bereit erklärt, Demokrat seit eh und je und bis ins Mark, auch wenn die Demokratie eben immer wieder einmal ihre Havarien hat, erklärt der erbitterte Minister Strauß kurz und bündig: »Keine glorreiche Wahl.«
Skizze eines Unglücks
Er hatte Vorfahrt, insofern keinerlei Schuld. Der Lastwagen mit Anhänger kam von links in die Allee kurz vor Montpellier. Es war Mittag, sonnig, wenig Verkehr –
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Sie trägt kurzes Haar, blond, Hosen mit einer Messing-Schnalle auf einem breiten Gurt, dazu eine violette Pop-Brille. Sie ist 35, Baslerin, witzig. Sie kennen einander bereits ein Jahr.
Ihre Frage: Oder fahre ich jetzt? ist nicht ihr letztes Wort vor dem Unfall (wie er später vielleicht meint); das hat sie auf dieser Reise öfter gesagt.
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In Avignon, allein im Badezimmer, das er abriegelt, obschon sie noch schläft, ist er entschlossen: So nicht weiter! Er will es ihr beim Frühstück sagen (ohne Streit): Kehren wir um! Es ist vernünftiger.
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Sie hat ihn im Bürgerspital kennengelernt als Arzt, dem sie sozusagen ihr Leben verdankt; seinetwegen ist sie in Scheidung.
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Bettnächte mit anschließender Besichtigung von Romanik oder Gotik, jeder Tag wie ein Examen: Geschichte der Päpste, nur weil man gerade in Avignon ist – sie fragt mit Vorliebe, was er nicht weiß oder nur ungefähr weiß, so daß er unsicher wird. Warum der Papst im 14. Jahrhundert nach Avignon emigriert ist, läßt sich ja nachlesen, wenn es sie wirklich interessiert. Aber es geht nicht um die Päpste. Nachher im Bett macht sie ihn wieder sicher.
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Er ist Junggeselle.
Sie findet die Reise gelungen. Das sagt sie seit Genua, wo es in Strömen geregnet hat. Später hat das Wetter sich gebessert. Sie sagt: Du schaust ja gar nicht! Vor allem die Provence begeistert sie, es kommt vor, daß sie auf der Fahrt singt.
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Er hat eine Glatze, das weiß er.
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Aix-en-Provence, natürlich findet er's schön, sogar sehr. Aber sie traut es ihm nicht zu, weil er anderswohin schaut als sie.
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Es heißt nicht CAVILLION , sondern CAVAILLON , der berühmte Spargel-Ort. Übrigens hat sie es ihm schon gestern gesagt. Sie hat recht. Es heißt tatsächlich CAVAILLON , kurz darauf steht es auf einem Schild: CAVAILLON . Dann schweigt er, kurz darauf überfährt er ein rotes Stop-Licht.
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Hotelzimmer mit grand-lit, wo sie nachher die Zeitung liest, LE FIGARO LITTERAIRE , wovon er, wie sie beide wissen, nichts versteht. Sie ist Romanistin, Dr. phil.
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In Nizza speisen sie mit Freunden, ein netter Abend, nur findet sie nachher, er habe während dieses ganzen Essens (Bouillabaisse) über Essen geredet. Das darf man einem Partnerwohl sagen. Er hat sich vorgenommen, nie wieder über das Essen zu reden, und übertreibt jetzt, schweigt mit Nachdruck, wenn Marlis ihrerseits über das Essen redet, wie es vor allem in Frankreich natürlich ist.
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Es ist nicht ihre erste gemeinsame Reise. Früher hatte er Humor, solange er davon zehrte, daß sie ihn als Arzt bewunderte. Ihre erste Reise, als sie genesen war, führte ins Elsaß.
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Er hat noch nie einen ernsten Unfall gemacht, trotzdem
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