Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Angehörige dieser Dienerkaste die Haare auffegten und all das rote, schwarze und graue Haar zu hässlichen, farblosen Haufen zusammenschoben.
In den nächsten Tagen begann der Unterricht. Heute, an Tag 6, habe ich gelernt, dass es kein Fegefeuer gibt, so wie Dante es beschrieben hat. Kein Limbus, keine Grauzone, kein Dazwischen. Entweder ist man verdammt, oder man ist es nicht. Yin oder Yang. Es gibt einen Himmel und es gibt eine Hölle, und niemals treffen sich die beiden.
Elfter Tag
Es fällt mir schwer, meine Aufzeichnungen jeden Tag fortzusetzen. Ich bin entweder zu müde, zu mutlos oder finde keinen ungestörten Augenblick, um etwas niederzuschreiben. Ich muss aufpassen, dass mich niemand dabei sieht, der für die Dämonen arbeitet. Eine Frau hat kürzlich einem Mann, auf dessen Stirn ein M prangte, einen Apfel gestohlen – obwohl sie eigentlich nicht essen müssen, werden die menschlichen Arbeiter mit bescheidenen Mahlzeiten belohnt, wobei ihnen befohlen wird, diese vor uns anderen einzunehmen. Der Mann hat den Dämonen den Diebstahl gemeldet, woraufhin sie sich wie eine Meute tollwütiger Hunde auf die Frau stürzten. Sie zerfetzten sie mit ihren Reißzähnen, um ihr eine Lektion über die Todsünde der Völlerei zu erteilen.
Sie ist noch nicht vollständig wiederhergestellt, und neben ihren Hungerqualen leidet sie nun noch zusätzliche Schmerzen.
Ich werde also mein Bestes tun und so viel aufschreiben, wie ich kann, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Immerhin ist dies ein Ort der Ewigkeit – wenn ich hier jeden Tag etwas aufschreiben würde, bräuchte ich ein wirklich großes, sehr dickes Buch. Aber warum sich überhaupt die Mühe machen? Wer wird all das denn jemals lesen? Soll ich es vergraben, damit es eines Tages, wenn die Hölle zufriert, von den Kindern eines gnädigeren Schöpfers wiedergefunden wird?
Aber selbst wenn ich nichts hineinschreibe, habe ich es mir zur Regel gemacht, jeden Tag die Haut des Buches zu streicheln und dem Auge tröstende Worte zuzuflüstern. Zu dumm, dass nicht auch ein Ohr an das Buch angenäht ist. Aber vielleicht versteht es meine Absicht ja durch meine Berührung.
Heute haben wir unsere bislang schockierendste Lektion gelernt. Vielleicht haben sie damit gewartet, bis wir bereit waren, sie voll und ganz in uns aufzunehmen. Ich hielt sie jedenfalls für bedeutend genug, um sie auf diesen Seiten festzuhalten.
Heute teilte man unserer Klasse mit, dass es Luzifer gar nicht gibt. Kein Satan. Den Teufel gibt es nicht.
Es gibt nur den Vater. Er ist der alleinige Schöpfer, der Herrscher über Himmel und Hölle, die Verkörperung des Yin und Yang. Er ist der einzige Satan – aber wenn du brav bist, ist Er auch Santa. Er ist der schizophrene Herr über alle Schöpfung und Zerstörung … und allem Anschein nach hat Er zwei Gesichter, aber nur ein halbes Herz.
Einunddreißigster Tag
Heute habe ich meinen Abschluss gemacht. Ich habe nun ein Diplom in Selbsthass, einen Magister in sinnloser Reue. Schließlich ist es ja nicht so, dass ich irgendeinen Nutzen aus meinen Lektionen ziehen könnte. Sie sind nichts weiter als ein Haufen Masochismus, Demütigungen und Erniedrigungen, der uns aufgezwungen wurde, um unser Selbstwertgefühl zu zermalmen – wie unter einem Pferdefuß.
Ich vermute allerdings, dass unsere Ausbildung weniger dazu diente, uns mit den Gesetzen und Gepflogenheiten der Unterwelt vertraut zu machen, die größtenteils ohnehin unbegreiflich sind, sondern vielmehr dazu, das Leiden, das wir werden ertragen müssen, mit unserer ganz persönlichen Ursache in Verbindung zu bringen. Dadurch sollen wir uns nicht wie unschuldige Opfer einer schrecklichen, aber namenlosen Tragödie fühlen, wie etwa bei einem Erdbeben oder einer Flutkatastrophe. So haben wir – auf der allerpersönlichsten Ebene – gelernt, dass jeder einzelne Schmerz, der noch vor uns liegt, gerechtfertigt ist und dass wir ihn verdienen. Dafür haben wir mit unserer Seele bezahlt. Diese scheinbar sinnlose Ausbildung – im ultimativen theologischen Institut – hat jedoch eine ganz entscheidende Veränderung in mir bewirkt: Sie hat mich von der Existenz eines Gottes überzeugt. Das war in meinen 33 Jahren als Sterblicher niemandem gelungen.
Andererseits hatte meine erste Begegnung mit einem dieser Teufel genau dieselbe Wirkung, und das ganz ohne Unterricht und all die verschiedenen Übungen – wie etwa das Schreiben in unseren Büchern – oder die Tatsache, dass wir uns gegenseitig mit
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