Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Wald ein.
Mehrere Stunden später, jedenfalls meinem Zeitgefühl zufolge, machte ich eine Pause, um mich auszuruhen. Meine Seele keuchte und war vollkommen erschöpft. Am Morgen, wie ich es gerne nenne, will ich versuchen, irgendwo etwas Essbares zu finden. Ich bilde mir ein, mehrmals das Kreischen eines Vogels gehört zu haben … obwohl ich natürlich nicht sicher sein kann, dass es sich tatsächlich um einen Vogel handelt.
Ich kroch auf Händen und Füßen in ein Dornendickicht, das im Schatten eines besonders großen Baumes lag, und legte mich auf ein Bett aus Tannennadeln. Tatsächlich gelang es mir, scheinbar mehrere Stunden am Stück zu schlafen … irgendwann weckte mich allerdings das weit entfernte, aber unverkennbare Donnergrollen weiterer Schüsse.
Da ich keinen Schlaf mehr finde, widme ich mich stattdessen meinem Tagebuch.
Dreiunddreißigster Tag
In diesem Wald gibt es außer Insekten nichts Essbares. Zumindest nehme ich an, dass diese dicken, mehrgliedrigen schwarzen Lebewesen, die ich in den verrotteten Astlöchern einiger älterer Bäume gefunden habe, Insektenlarven sind. Sie sind gar nicht mal so schlecht … besonders, wenn man einen Monat lang gar nichts gegessen hat. Aber von den langsam krabbelnden, fünfzehn Zentimeter langen Albino-Tausendfüßlern, die ich gestern unter einem Haufen feuchter, welkender Blätter entdeckt habe, wurde mir furchtbar übel, und das, obwohl ich nur einen von ihnen gekostet hatte. Die Blätter und Stämme um mich herum bluten rot und stinken wie verrottetes Fleisch, wenn ich sie abbreche, genau wie der Efeu in der Universität. Die wachsartigen violetten Blätter irgendeiner merkwürdigen Pflanze, die ganz dicht über dem Boden wächst, sind sogar so groß, dass man das leichte Pulsieren ihrer Adern sehen kann.
Aber an sich finde ich diesen violetten Wald sehr schön … besonders die hohen Tannen, die sich sanft im Wind wiegen. Ist diese Schönheit die volle Absicht des Schöpfers oder doch nur ein Versehen? Man sollte annehmen, Er wolle hier unten nicht das kleinste Fleckchen Schönheit, und dass jeder einzelne Baum eigentlich tot, schwarz oder missgebildet sein müsste. Vielleicht ist Ihm ja nur nicht bewusst, dass es Menschen wie mich gibt, die auch in einer solch fremdartigen Umgebung noch Schönheit finden können.
Gestern habe ich eine Gruppe von einem halben Dutzend primitiver Menschenaffen gesehen, die ebenfalls durch den tiefen Wald streiften – gebückt, nackt, mit zerzaustem Fell und großen menschenähnlichen Köpfen. Als sie mich sahen, eilten sie angsterfüllt außer Sichtweite. Selbst sie wissen wohl, dass es besser für sie ist, nicht laut aufzuschreien und dadurch Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie sahen unversehrt aus und schienen noch nicht einmal Brandmale auf ihrer hervortretenden Stirn zu tragen, aber ich habe sie auch nicht aus der Nähe gesehen.
Offen gestanden machten sie mir im ersten Moment genauso viel Angst wie ich ihnen. Ich hielt sie für Dämonen von niederem Rang – wie diese geflügelten Paviane – bis sie verschwanden und mir bewusst wurde, was sie in Wirklichkeit waren. Sie wurden in die Hölle verdammt, weil sie den Sohn nicht in ihre Herzen gelassen hatten, denn der Sohn ist die einzige Tür zur Erlösung. Es schien offensichtlich keinen Unterschied zu machen, dass sie viele Tausend Jahre, bevor der Sohn überhaupt auf die Erde gekommen war, gelebt hatten und gestorben waren. Genau wie nicht getaufte Babys, die gar nicht lange genug lebten, um den Sohn für sich anzunehmen: Auch sie werden hierher verbannt, obwohl sie Ihm vielleicht sehr gerne Ehre erwiesen hätten, wenn sie nur die Chance dazu gehabt hätten. Dabei fällt mir ein, dass Swedenborg geschrieben hat, ungetaufte Babys kämen direkt in den Himmel – tut mir leid, aber das ist reines Wunschdenken. Auch wenn ich vorher nie darüber nachgedacht hatte, ob vielleicht auch Urmenschen in der Unterwelt lebten, hatte ich während meiner Ausbildung gelernt, dass auch Aborigines, Pygmäen und andere primitive Völker, die niemals mit dem Glauben an Vater und Sohn konfrontiert worden waren, verdammt waren … allerdings nicht aus Gründen der Vorbestimmung, sondern schlicht aufgrund schlechten Timings oder mangelnden Losglücks. Der Vater war ihnen gegenüber, genau wie bei Juden und Muslimen, jedoch nicht vollkommen gnadenlos: Man erklärte uns, dass alle, die bereits vor der Ankunft des Sohnes gelebt hatten, lange nicht so sehr würden leiden müssen wie
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