Tagebuch aus der Hölle (German Edition)
Kopfbedeckung trug. Es war das erste Mal, dass ich einen Engel sah.
Die weiß gekleidete Gestalt stellte sich über ihr Opfer, das sich auf dem Boden wand, und feuerte aus nächster Nähe weitere Schüsse ab. Anschließend drehte sie sich um und ging wieder in Richtung der Universität zurück.
Ich tauchte in den Wald ein. Es wäre sinnlos gewesen, dem Opfer des Engels zu Hilfe zu eilen – er oder sie würde ohnehin bald wiederauferstehen. Wir sind die Untoten. Zombies. Vampire.
Ich hatte im Unterricht gelernt, dass auch Engel manchmal in die Hölle kommen – freiwillig natürlich –, um die Verdammten zum Spaß zu jagen oder zu foltern. So finden sie nicht nur ein bisschen Unterhaltung, die ihnen die lange Zeit der Unsterblichkeit ein wenig verkürzt, sondern helfen darüber hinaus auch dem Vater, indem sie den Dämonen bei deren Arbeit unter die Arme greifen. Diese Touristen sind aber keine echten Engel – jedenfalls keine von der himmlischen Sorte, die noch nie eine irdische Form angenommen haben. Sie sind die Geister jener verstorbenen Männer und Frauen, die im Himmel wiedergeboren wurden. Aber im Himmel werden sie dann genauso wie jene Wesen, die noch nie auf unserer traurigen kleinen Felsenkugel wandelten. So gesehen könnte man einen Engel auch als Dämon bezeichnen.
Da ich zwar mit den verschiedenen Kategorien der Teufel vertraut, bislang aber noch keinem Engel aus nächster Nähe begegnet war, fürchtete ich mich mehr davor, hier draußen einem Engel als einem Teufel über den Weg zu laufen, nun, da ich frei war. Ich lief daher immer tiefer in den Wald hinein, für den Fall, dass der Engel, den ich eben beobachtet hatte, zurückkommen sollte oder ein paar Freunde in dieser Gegend hatte.
Inzwischen bestand der Wald hauptsächlich aus Tannen, die höher und gerader wuchsen. Ihre Nadeln hatten dieselbe tiefviolette Farbe wie der Efeu. Auch das Bett aus toten Nadeln unter meinen Füßen war eher violett als braun. Aufgrund des dunklen Himmels schien in dem Wald beinahe Nacht zu herrschen. Ich versuchte, meine Schritte nicht zu laut auf dem Waldboden knirschen zu lassen. Die Baumwipfel rauschten unheimlich im hohen Pfeifen des Windes, der mal aus der einen, mal aus der anderen Richtung wehte.
Schon bald wurde mir bewusst, dass es nicht nur der Wind war, den ich dort hörte, sondern auch Schreie der Verzweiflung. Als ich nach oben schaute, erkannte ich zwei menschliche Füße, die ein Stück über meinem Kopf aus einem dicken Baumstamm wuchsen. Am Baum gegenüber erblickte ich zwei weitere Füße … sie schienen direkt aus der Rinde herauszuwachsen und nicht einfach aus zwei Löchern hervorzustehen. Ich legte meinen Kopf noch weiter in den Nacken und sah zwei Hände, die ebenfalls aus dem Stamm hervortraten, sich aber zu hoch oben befanden, um zur selben Person zu gehören wie die Füße. Das Gleiche galt für den zweiten Baum. Dennoch war ich mir aus irgendeinem Grund sicher, dass in diesen Bäumen jeweils nur eine Person gefangen war. Ich wusste außerdem – auch wenn sie zu hoch oben und zwischen den Zweigen versteckt lagen –, dass aus beiden Stämmen ein menschlicher Kopf herausragen musste. Die Quelle des Wehgeschreis.
Diese beiden Menschen waren mit den Bäumen verschmolzen, als diese noch jung gewesen waren. Als sie dann über Jahrzehnte hinweg gewachsen waren, hatten sie die Körper ihrer gefangenen Opfer immer weiter auseinandergezerrt, wie auf einer gigantischen Streckbank. Ein Paar Füße sah eher männlich aus, das andere weiblich. Waren sie Liebende gewesen, die einander mehr geliebt hatten als den Vater? Vielleicht klemmten sie deswegen nun für alle Ewigkeit hier zusammen … oder zumindest, bis eines Tages ein paar Dämonen des Weges kamen, die Bäume fällten und die Gefangenen befreiten, damit sie endlich wieder neue, frische Bestrafungen erfahren konnten.
Dieser Anblick ließ mich an mein lebendes Buch denken, und beides machte mir entsetzliche Angst. Ich sollte meine Freiheit, diese Gegend durchstreifen und erkunden zu können, nicht als selbstverständlich ansehen. Hier gibt es nicht nur diejenigen, die mich wie ein Tier jagen möchten, sondern auch andere, die mich einfangen und für ganze Generationen einsperren und mit irgendeiner besonderen Folter quälen würden. Ich muss stets wachsam bleiben, im Verborgenen. Für den Fall, dass diejenigen, die für das Leiden dieses Pärchens verantwortlich waren, sich noch immer in der Nähe aufhielten, drang ich noch tiefer in den
Weitere Kostenlose Bücher