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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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wenn er es nicht tat.
    Er öffnete die Tür ganz. »Oben«, grunzte Padraig. »Dritte Tür links. Beeilen Sie sich.«
    Dr. Edwards nickte und eilte die Treppe hinauf, wo seine Nase sofort dem Geruch von Schweiß und Cannabis ausgesetzt wurde. Er hörte im Vorbeigehen mindestens zwei oder drei verschiedene Sprachen, in denen hinter den Türen geflüstert wurde. Er eilte bis zum Kinderzimmer. Von drinnen hörte er die schweren Schritte mehrerer Paar Füße. Und das Weinen eines Kindes.
    Die Polizeibeamten standen nun direkt vorm Haus. Padraig hatte die Tür angelehnt gelassen. Sergeant Mills schlug vor, hineinzugehen. Sergeant Bancroft stand nicht der Sinn danach, er wollte lieber frühstücken. Er argumentierte damit, dass sie sich um den Motorschaden kümmern mussten.
    Dr. Edwards stieß die Tür zum Kinderzimmer auf. Ich folgte ihm. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn laut fluchen. Durch den Qualm hindurch konnte er ein blutverschmiertes kleines Mädchen erkennen, das an die Beine eines Stuhls gefesselt war. Neben dem Kind befanden sich zwei Männer und eine Wasserpfeife. Der Kopf des Mädchens wackelte unkontrolliert hin und her.
    Dr. Edwards war ein friedliebender Mensch mit einer Vorliebe für Golf und ruhige Sonntagnachmittage. Doch ehe er sichs versah, stürzte er auf das Mädchen zu und versuchte es von seinen Fesseln zu befreien. Im selben Moment machte seine Schläfe Bekanntschaft mit einer beringten ukrainischen Faust.
    Â»Was war das?« Sergeant Mills zog seine Waffe und ging zurück zur Tür. Sergeant Bancroft seufzte. Widerwillig zog auch er seine Waffe. Er schuldete Sergeant Mills einen Gefallen. Normalerweise hätte er stur auf seinem Frühstück bestanden.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und entrang Margot einen kurzen, durchdringenden Schrei.
    Sergeant Bancroft stürmte als Erster ins Haus. Gleich im Erdgeschoss entdeckte er die Zimmer voller hohläugiger Männer und verflohter Frauen, die aus Kartons aßen und alle nebeneinander auf dem Boden schliefen. Sein Schulfranzösisch wurde zu neuem Leben erweckt, als die Frau unter dem Sofa ihm erzählte, was los war: dass sie Immigranten seien, die von dem Mann, der gerade durch das Badezimmerfenster hinausgeklettert sei, wie Sklaven gehalten würden; dass sie nach Hause wollten.
    Sergeant Mills kam Dr. Edwards bei seinem Kampf im ersten Stock zur Hilfe. Er schoss dem Mann, der ein Messer gezogen hatte, in den Arm und kettete den anderen mit Handschellen ans Gitterbett. Dr. Edwards nahm Margot auf den Arm und war entsetzt, wie leicht und zerbrechlich sie war. Er trug sie aus dem Haus, wo ihr der erste Sonnenstrahl seit Monaten über das Gesicht strich.
    Während er so mit ihr auf der Straße stand und ihren Puls fühlte, beugte ich mich zu ihr hinab und berührte ihren Kopf. Da durchzuckte mich eine Erinnerung. Nur ganz kurz. Von einem Mann, der sich über mich beugt und über dessen Stirn Blut läuft. Ich konnte mich an diesen Augenblick erinnern. Seine Hände zitterten, als er Margots kleinen Körper untersuchte. Hier witterte ich meine Chance.
    Nimm sie mit zu dir nach Hause, flüsterte ich ihm zu.
    Zu meiner grenzenlosen Erleichterung hörte er jedes Wort.

– 6 –
    DAS SPIEL
    Aufgrund Margots äußerst kritischen Gesamtzustandes hatte die Polizei nichts gegen Dr. Edwards’ Wunsch einzuwenden, das Kind bei sich zu Hause zu behandeln.
    Die nächsten beiden Wochen verbrachte Margot in einem weichen, sauberen Bett mit Blick auf grüne Hügel und den blauen Himmel. Nicht dass sie den Ausblick besonders genossen hätte – sie schlief die meiste Zeit. Aber ich machte es mir mit einem guten Buch (Dr. Edwards hatte eine beeindruckende Sammlung von Dickens-Erstausgaben) auf einer Chaiselongue am Fenster bequem. Margot kam an den Tropf und wurde mit frischem Obst und Gemüse sowie Milch aufgepäppelt. Nach und nach verblassten die blauen Flecken an ihren Armen und Beinen und die dunklen Ringe unter ihren Augen. Doch das goldene Licht, das ihr Herz umgeben hatte, kam nicht mehr zurück.
    Dr. Edwards (oder Kyle, wie Margot ihn nennen sollte) war verheiratet und hatte zwei Töchter von dreizehn und achtzehn Jahren. Überall standen Fotos seiner Lieben – auf dem Kaminsims, auf den langen Regalen gegenüber der Wendeltreppe, auf seinem viktorianischen Schreibtisch im Arbeitszimmer. Ich hatte das unbestimmte

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