Tagebuch eines Engels
Gefühl, dass die Familie irgendwie gespalten war: Die ältere Tochter, Karina, posierte auf jedem Foto wie ein Supermodel. Hielt sich mit einer Hand die langen, dunklen Haare hoch, stemmte die andere Hand in die ausgestellte Hüfte, machte stets einen Schmollmund und zwinkerte in die Kamera. Noch viel aufschlussreicher aber war, dass Dr. Edwardsâ Frau Lou zwar auf jedem Bild den Arm um Karina legte, aber nach einem Lächeln suchte man vergebens. Die jüngere Tochter, Kate, stand immer etwas abseits von ihrer Mutter und Schwester und hielt den Kopf stets leicht geneigt, sodass ihr glattes, dunkles Haar eigentlich immer die Hälfte ihres Gesichts verbarg. Die Hände hatte sie meist vor dem Körper verknotet. Selbst wenn wenig Platz war und sie auf Tuchfühlung gehen mussten, fiel mir auf, dass Kate sich immer so platzierte, dass sie keinen Körperkontakt mit Lou oder Karina hatte.
AuÃerdem erkannte ich sie. Ein vages Bild löste sich aus den Tiefen meines Gedächtnisses: eine feine Porzellan-Tischlampe, die zu Boden fällt und zerspringt. Ein Spielbrett. GleiÃendes Sonnenlicht, das durch die Tür eines Schuppens fällt, und dazu Kates verzerrtes Gesicht â von einem Schrei oder einem Lachen. Ich sah aus dem Fenster in den Garten. Da stand ein groÃer Holzschuppen. Das musste er sein.
Lou, Kate und Karina verbrachten einen Monat in Dublin bei Lous Eltern. Kyle hielt sich mit diversen Kleinarbeiten rund um das Haus beschäftigt, während Margot schlief, aber aufgrund der jüngsten Ereignisse war er sehr zerstreut. Ein halb fertiges Vogelhäuschen, ein ungestrichener Türrahmen ⦠Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt durchs Haus und sorgte dafür, dass keine Nägel herumlagen, die Margot hätte herunterschlucken oder in die sie hätte hineintreten können.
Ich konnte sehen, was in Kyles Kopf ablief â und zwar buchstäblich. Er hatte Margots Krankenakte aus dem Archiv hervorgeholt und sich nach und nach an jenen Säugling erinnert, den er vor einigen Jahren behandelt hatte â und von dem er nicht geglaubt hätte, dass er überhaupt so alt werden würde. Und schon gar nicht in einem Umfeld, das derart von Drogen und Gewalt geprägt war.
Kurze, von Sorge und Verwirrung geprägte Filme spulten sich hinter seiner Stirn ab, wenn er sich abends vor dem Fernseher einen Gin Tonic genehmigte, um zu entspannen. Doch selbst in der Badewanne setzte sich das Fragenbombardement fort: Wie kann es sein, dass sie noch lebt? Ventrikuläre Tachykardie ist unheilbar ⦠War es ein Fehler von mir, ihren Pflegeeltern von ihrem drohenden frühen Tod zu erzählen? Apropos, wo sind die eigentlich? Wie war Margot in dem heruntergekommenen Haus gelandet?
Er konnte nicht schlafen. Ich beobachtete ihn verwirrt dabei, wie er sich in den frühen Morgenstunden nach unten in sein Arbeitszimmer schlich und seinen Schreibtisch mit medizinischen Büchern und Fachzeitschriften pflasterte. Ich wollte ihm so gerne die Antwort auf seine Preisfrage verraten. Denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund wusste ich ganz genau, dass Margot nicht an ventrikulärer Tachykardie litt, sondern an einer Verengung der Aortenklappe, die eine transthorakale Echokardiografie, einen Ultraschall des Herzens, erforderte. Damals war ein Herzultraschall etwas, das in etwa so oft vorkam wie ein Huhn mit Zähnen. Ich durchstöberte Kyles Schreibtisch und schlug eine seiner Fachzeitschriften genau dort auf, wo sich ein Artikel von Dr. Piers Wolmar befand, einem Professor an der Universität Cardiff, der sich auf Sonografie spezialisiert hatte. Ich raschelte ein wenig mit den Seiten, um Kyles Aufmerksamkeit zu erregen. Endlich wandte er sich der Zeitschrift zu, nahm sie zur Hand und hielt sie sich knapp vors Gesicht. Es war bereits das achte Mal heute, dass er seine Brille verlegt hatte.
Hoch konzentriert las er den Artikel. Ab und zu lieà er die Zeitschrift sinken und dachte laut nach. Er fing an, seine eigene Diagnose infrage zu stellen. Und wenn es nun gar nicht ventrikuläre Tachykardie war? Was war das für ein Verfahren, das Dr. Wolmar beschrieb? Echokardiografie? Die technische Entwicklung war so rasant, dass ihm ganz schwindelig wurde.
Er machte sich sofort daran, einen Brief an Dr. Wolmar zu verfassen, in dem er von Margots Symptomen berichtete und um mehr Informationen zu einer möglichen Behandlung bat. Als die Sonne kreisrund wie ein Gong
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