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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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dorthin zu verbannen. Sheren stellte sich neben Hilda und fing an zu singen. Die Melodie klang wie ein traditionelles schottisches Wiegenlied, den Text konnte ich allerdings nicht verstehen, der erklang in einer mir fremden Sprache. Langsam, rätselhaft, wunderschön. Sherens Stimme war sehr klangvoll und laut, und sie hob sie immer mehr an, bis der Fußboden vibrierte. Während sie sang, breiteten sich Sherens Flügel aus und umfingen Hilda. Ihre Auren nahmen die gleiche lila Färbung an. Hilda hörte auf, an die Gruft zu denken. Stattdessen schickte sie das Mädchen ohne Abendessen zu Bett.
    Ich ging auf Sheren zu.
    Â»Wo hast du das gelernt?«
    Â»Das Lied der Seelen ist jede Art von Musik, die dich und Margot in Einklang bringt. Musik, die euch auf spiritueller Ebene verbindet, ganz gleich, in welchem Lebensalter Margot sich befindet. An welches Lied aus deiner Kindheit erinnerst du dich ganz besonders? Welche Musik war von Bedeutung für dich?«
    Ich dachte scharf nach. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, waren Kinderlieder – Gott weiß, wie endlos viele und oft ich ihr vorgesungen habe, um sie zu trösten, als sie bei Sally und Padraig war –, doch dann fiel mir etwas ein, das Toby immer sang, wenn ich mit dem Schreiben nicht recht vorankam. Es war ein irisches Lied. She Moved Through the Fair. Und dann fiel mir ein, dass auch Una es Margot vorgesungen hatte.
    Â»Okay«, sagte ich. »Und wie funktioniert das?«
    Â»Das Lied der Seelen verbindet deinen Willen mit Margots. Du bist immer noch Margot, du heißt nur anders und hast eine andere Form angenommen. Aber euer Wille wird eins sein, eure Entscheidungen werden eins sein.«
    Â»Das heißt, ich kann sie dazu bringen, anders zu entscheiden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Schließlich ist sie es, die in einem menschlichen Körper steckt. Sie hat die Oberhand. Du kannst sie nur beeinflussen.«
    Ich hatte Kopfschmerzen. Ich machte mich auf den Weg zu Margot. Lied der Seelen, so so. Vielleicht konnte ich sie ja komplett hier heraussingen?
    Im Alter von acht Jahren war Margot ihren Altersgenossen bereits haushoch überlegen. Sie wusste, wie alt sie war, weil irgendein Lehrer jedes Jahr am 10. Juli knapp verkündete, dass sie nun ein Jahr älter geworden sei. Das war’s. Doch Margot ging problemlos für elf oder zwölf Jahre durch, und darum wurde jeder Quatsch, der für eine Achtjährige normal war, entsprechend bestraft. Von den anderen Achtjährigen wollte sich niemand mit ihr anfreunden, und die Zwölfjährigen wollten auch nichts von ihr wissen. Ach, halt, Moment, das stimmt nicht ganz. Zwei der zwölfjährigen Mädchen, Maggie und Edie, interessierten sich für Margot. Sie waren nämlich neidisch auf ihre langen weißblonden Haare. Sie sorgten dafür, dass das Haar sich regelmäßig rot färbte, indem sie Margot die Nase blutig schlugen, oder verschafften Margot so dunkle Veilchen, dass sie aussah wie ein Panda.
    Ich hätte die beiden am liebsten ersäuft. Ich hätte am liebsten das riesige Bücherregal aus massiver Eiche, das so imposant ganz oben am Treppengeländer stand, umgekippt und ihnen auf den Kopf fallen lassen. Nicht nur, weil ich es war, die nachts die Arme um Margot schlang, wenn sie lautlos in ihrem Bett schluchzte, und auch nicht nur, weil ich dabei zusehen musste, wie Maggie sich auf Margot setzte und sie festhielt, während Edie ihr ins Gesicht trat, sondern ganz einfach, weil ich mich daran erinnerte. Ich war nicht vollkommen hilflos – einmal sorgte ich immerhin dafür, dass ein ganz besonders perfider Tritt gegen Margots Kopf ihr nicht das Rückgrat brach – aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich besonders viel tun konnte, geschweige denn, dass ich Rache nehmen konnte.
    Wie eine aufgebrachte Mutter zankte ich mit Maggies und Edies Engeln. Beide erklärten mir die Hintergründe für die Gewalttätigkeit der Mädchen. Missbrauch hier, Folter da. Ich winkte ab, wollte ihre Ausreden nicht hören. Ist mir doch egal. Haltet sie auf, bevor ich es tue. Clio und Priya – so hießen die Engel – tauschten vielsagende Blicke. Als Maggie eine Nacht in der Gruft verbrachte, weil sie Widerworte gegeben hatte, dachte sie plötzlich an die vielen Verunglimpfungen, die sie Margot zugefügt hatte, und empfand nie da gewesene Reue. Edie träumte, dass ihre Großmutter – die

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