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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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ließ St.Anthonys rumpelnd hinter sich, und ich weinte. Margot weinte auch. Sie war so voller Hoffnung und Angst, dass sie glaubte, es würde sie zerreißen.
    Und dann fiel der Motor aus. Noch bevor der Lieferwagen die Hauptstraße erreicht hatte, blieb er stehen. Hugh fluchte, drehte mehrmals den Zündschlüssel und schaltete hin und her. Doch von unter der Motorhaube kam nur ein schwaches, mechanisches Husten. Ich sah mir den Motor an: Abgesoffen. Leicht zu beheben. Aber schnell! Hugh pfiff vergnügt, als er die Motorhaube öffnete und sich daran machte, das Problem zu lösen.
    Da tauchte Sheren neben mir auf.
    Â»Tut mir leid, Ruth«, sagte sie. Ich erstarrte.
    Schritte, Schreie. Die Hintertür wurde aufgerissen, jemand packte Margot. Hilda schleifte sie an den Haaren zurück zum Heim, und der alte Hugh blickte ihnen verdutzt hinterher.
    Und genau da, genau in diesem Moment, verblasste das Bild von der Familie im Dorf. Als sei sie im Begriff zu sterben. So wie Margot.
    Dieses Mal prügelte Hilda Margot nicht mit Händen oder Füßen und auch nicht mit der Peitsche. Nein, dieses Mal bediente sie sich eines kleinen, aber schweren Sacks Kohle, an den Margot sich wie an einen Anker geklammert hatte, als Hilda sie zum Haus zurückzerrte. Sheren weinte, als sie für Hilda sang, um sie daran zu hindern, den schweren Sack bis hoch über den Kopf zu heben und auf Margots kleinen, reglos am Boden liegenden Körper fallen zu lassen. Vergeblich. Also versuchte ich mit aller Kraft zu verhindern, dass beim Aufprall Margots Schädel brach oder ihre Nieren rissen. Später, als die Engel Margot Nacht für Nacht in der Gruft beistanden, stellten wir uns kreisförmig um sie herum auf, heilten die ihr zugefügten Wunden und taten alles, damit das Gift, das Hilda mit ihren Bestrafungen verspritzte, Margots Leben nicht allzu tief durchdrang.

    Der Fluchtplan, den ich in Margots Kopf gepflanzt hatte, war nicht gestorben. Im Gegenteil: Er schlug Wurzeln und wuchs und gedieh.
    Er glückte schließlich auf eine Art und Weise, die ich nicht erwartet hätte.
    Als Margot elf Jahre alt war, beschloss Hilda, sie zu töten. Sheren gab diese Information nur widerwillig weiter, sah sich aber dazu gezwungen. Denn Hilda hatte nicht einfach nur beschlossen, Margot umzubringen. Nein, was sie vorhatte, würde zu Margots Tod führen, wenn wir nicht eingriffen. Für Hilda war Margots Fluchtversuch der endgültige Beweis dafür, dass Margots Flügel für immer gestutzt werden mussten. Einen ganzen Monat sollte sie in der Gruft verbringen – so lange war noch nie ein Kind auf St.Anthonys dort eingesperrt gewesen.
    Margot Nacht für Nacht in der Gruft Trost zu spenden und Beistand zu leisten würde dieses Mal nicht ausreichen. Wir mussten verhindern, dass sie überhaupt dorthin kam. Sheren trug mir auf, ihrem Beispiel zu folgen. Einen Moment lang sah ich sie an. Es war nun schon länger her, seit ich das letzte Mal daran gedacht hatte, wer sie einmal gewesen war und was sie mir mal angetan hatte. Ich hatte meinen Hass auf sie vergessen. Ich hatte ihr verziehen.
    Sheren wies uns an, es zuzulassen, dass Margot an jenem Abend aus ihrem Bett geholt wurde. Hilda und
Mr. O’Hare schafften Margot zu den Toiletten im Erdgeschoss, wo sie sie auszogen und dann auf dem rostigen alten Heizkörper bewusstlos schlugen. Mir reichte es, ich wollte mich nicht mehr zurückhalten. Ich wandte mich an Sheren.
    Â»Sag Margot, was ich dir jetzt sage«, flüsterte sie mir schnell zu. Ich kniete mich neben Margot und hielt ihren Kopf. Sie hatte eine Platzwunde über dem Auge, die stark blutete. Ihre Atmung war flach. Sie war noch immer ohne Bewusstsein. Hilda befahl Mr. O’Hare, seinen Gürtel auszuziehen.
    Ich wiederholte, was Sheren sagte:
    Als Hilda klein war, hatte sie eine Freundin, die hieß Marnie. Hilda liebte Marnie über alles in der Welt. Und Marnie liebte Hilda. Aber dann ist Marnie gestorben, und Hilda war so unendlich traurig. Jetzt wacht Marnie über Hilda, und jetzt ist sie unendlich traurig. Sprich mir nach, Margot. Sag: Wenn Marnie Sie jetzt so sehen könnte, würde sie sich glatt noch mal umbringen.
    Margot hustete und kam zu sich. »Wann immer Sie wünschen, Mr. O’Hare«, sagte Hilda, als er mit dem Gürtel ausholte. Doch sein Engel hielt ihn auf. Nur ein winziger Augenblick des Mitgefühls hatte es Mr. O’Hares Engel

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