Tagebuch eines Engels
Priya einst gewesen war â sie ermahnte, ein liebes Mädchen zu sein. Eine Zeitlang blieb Margot verschont von Wunden und blauen Flecken.
Bis ich das Lied der Seelen sang.
Ich hatte erspürt, dass eine gute, fleiÃige Familie in das nächstgelegene Dorf gezogen war. Ich hatte eine Vision von ihnen gehabt: Der Mann, Will, war Anfang vierzig und Handelsreisender. Seine Frau Gina hatte viele Jahre als Klavierlehrerin gearbeitet, bis ihr Sohn Todd geboren wurde. Sie waren von Exeter hierher in den Norden gezogen, damit sie sich um Ginas älter werdende Eltern kümmern konnten. Ich glaubte, dass sie
eine gute Familie für Margot wären. Und was noch viel wichtiger war: Ich glaubte, dass sie sie aufnehmen würden.
Das Lied der Seelen galt mir als Beweis für das, was ich bereits vermutet hatte: Margots Leben, mein Leben, war nicht in Stein gemeiÃelt. Wenn ich Margot dazu bewegen könnte, eine andere Entscheidung zu treffen, könnten wir St.Anthonys vielleicht schon bald hinter uns lassen.
An jenem Abend wartete ich, bis alle Lichter aus waren, und nahm dann meine etwas rostig gewordene Stimme in Betrieb. Ich stand auf und vergewisserte mich unsicher, dass die andern Engel nicht zusahen, wie ich tief einatmete und anfing zu singen. My young love said to me, my mother won â t mind ⦠Margot war kurz davor, einzuschlafen, zappelte auf der klumpigen Matratze herum und legte sich auf ihren linken Arm. And my father won â t slight you for your lack of kind ⦠Ich hielt den Ton ganz gut und sang ein wenig lauter. And she stepped away from me, And this she did say: It will not be long, love, until our wedding day. Margot schlug die Augen auf.
Ich spürte, wie die Wasserfälle auf meinem Rücken sich genau so erhoben, wie Sherens Flügel sich Regenwänden gleich ausgebreitet hatten. Ich sah, wie Margots Aura sich weitete und eine intensivere Färbung annahm. Sie blickte direkt in meine Richtung, konnte mich aber weder sehen noch hören. Sie konnte lediglich spüren, dass irgendetwas tief in ihr drin anders war. Ich sang lauter, bis alle Engel im Schlafsaal zu mir hersahen. »As she stepped away from me, and she moved through the fair â¦Â« Jetzt konnte ich Margots Herz sehen, gestärkt und geheilt. Und dann sah ich ihre Seele, jenen Kreis weiÃen Lichts, fast wie ein Ei, in dem sich nur ein einziger Wunsch befand: die Sehnsucht nach einer Mutter.
Während ich sang, konzentrierte ich mich auf die Familie, die ich im Dorf gesehen hatte. Ich schmiedete im Geist einen Fluchtplan mit Anweisungen für Margot:
Du musst das Gerücht verbreiten, dass du eine Nacht in der Gruft verbringst. Dann versteckst du dich bis zum Morgengrauen im Heizungskeller. Kurz bevor der Lieferwagen abfährt, schleichst du dich hinaus in den Hof, steigst hinten ein und versteckst dich unter den Kohlesäcken. Wenn der Lieferwagen abbremst, um über das Schafgitter am Ortseingang zu fahren, springst du wieder ab und läufst zu dem Haus mit der himmelblauen Tür. Die Menschen dort werden dich aufnehmen.
Als ich aufhörte zu singen, saà Margot aufrecht im Bett. Sie hatte die knochigen Knie an die Brust gezogen und dachte nach. Ich konnte ihre Gedanken sehen: Sie hatte meinen Fluchtplan im Kopf und wog ihn ab. Ja, dachte sie. Der Lieferwagen kommt jeden Donnerstagmorgen um fünf â übermorgen. Sie hatte ihn schon ein paar Mal gesehen. Der alte Hugh, der Fahrer, war auf einem Ohr taub. Das würde sie ausnutzen.
Gleich am nächsten Morgen vertraute sie Tilly, der Elfjährigen, die im Bett über ihr schlief, an, dass sie abends in die Gruft müsse.
»Was? Wieso das denn?«
Darüber hatte Margot sich noch keine Gedanken gemacht. »Ãh, weil ich Miss Marx gegenüber eine Grimasse gezogen habe.«
»Wow! Du traust dich was! Das muss ich unbedingt den anderen erzählen!«
Bereits beim Mittagessen tuschelte es an jedem Tisch. Die Geschichte wurde ziemlich aufgeblasen. Margot hatte jetzt nicht mehr einfach nur eine Grimasse gezogen, sondern Miss Marx ins Gesicht gesagt, sie sei ein »oller Misthaufen«, und als Miss Marx sie in ihr Büro schleifen wollte, hatte Margot ihr zwei Ohrfeigen verpasst und dann den Rock gehoben und ihr ihren nackten Hintern gezeigt. Margot würde auf unbestimmte Zeit in die Gruft kommen.
Nun hatte Margot ein Problem: Sie konnte schlecht inszenieren, wie sie in die Gruft abgeführt wurde. Es
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