Tagebuch eines Engels
vorausgeeilt und hatte mich gewarnt. Toms Schutzengel, ein groÃer, dünner Mann namens Leon, stellte sich neben den Jungen und stupste ihn an. Doch dieser schenkte ihm erst seine Aufmerksamkeit, nachdem er »Fresst Blei, ihr Mistmonster!« in Hildas Richtung geschrien hatte.
Sie sah die beiden dort stehen, wie sie alberne Kinderspiele spielten. Nichts als Unsinn im Kopf. Dafür hatten sie sich eine saftige Strafe verdient.
Sie lächelte â was nie ein gutes Zeichen war â und ging auf sie zu.
»Was ist denn das hier, Kinder? Alberne Spielchen?«
Tom lieà seine Waffen fallen und senkte den Blick. Margot tat es ihm nach.
»Tom? Warum bist du nicht im Klassenzimmer?«
Er schwieg.
»Antworte mir gefälligst!«
»Ich ⦠ich habe nicht aufgepasst, Miss Marx.«
Dann funkelte sie Margot an. »Und du, Margot? Was machst du hier auf dem Flur?«
»Ich muss mal Pipi, Miss Marx.«
Hilda schürzte die Lippen. Sie hob einen ihrer astdicken Arme und zeigte zum Ende des Flurs. »Die Toiletten sind da, Fräulein. Aber dalli.«
Margot sauste davon. Als sie die Toilettentür erreicht hatte, drehte sie sich um. Die Ohrfeige, die Tom sich einfing, schallte bis zu ihr.
Mr. OâHare berichtete der Heimleitung von Toms rücksichtslosem Verhalten, von seinen nachlassenden Leistungen und seiner ständigen Unruhe â und unterstützte Hilda damit in der Annahme, die Gruft sei das probate Mittel, um den Jungen auf Kurs zu bringen.
Sämtliche Engel trafen sich, als das Licht ausgeschaltet wurde, auf dem Treppenabsatz über der Eingangshalle. Sheren erzählte uns, was heute Nacht passieren würde: Hilda und Mr. OâHare würden Tom in seinem Schlafsaal aufsuchen, nachdem die anderen eingeschlafen waren. Sie würden ihn ausziehen, schlagen und ihn für zwei lange Wochen in die Gruft werfen. Kein einziges Kind unter zehn Jahren war jemals für mehr als zehn Tage in die Gruft gesteckt worden. Die Strafe fiel deshalb so hart aus, klärte Sheren uns auf, weil Tom Hilda an sie selbst erinnerte. Es wurde jeder Engel gebraucht, um Tom während dieser grauenvollen zwei Wochen zu unterstützen, weil die möglichen Spätfolgen dieses Kerkeraufenthaltes von manischer Depression über erhöhte Gewaltbereitschaft und die Vergeudung von Toms Talent als Bühnenautor bis hin zum Scheitern seiner Ehe und einem viel
zu frühen Tod reichten. Und das noch vor seinem fünfunddreiÃigsten Lebensjahr. Und alles nur wegen Hilda Marx.
Ich kehrte zu Margot zurück. Es war ihre erste Nacht im St.Anthonys, und sie konnte nicht einschlafen. Es waren ihr einfach zu viele andere Kinder im Zimmer. Ãberall flüsterte, schnarchte oder schluchzte jemand, und das machte ihr Angst. Ich rieb ihre Hände. Zum ersten Mal seit Monaten sah sie mich direkt an. Ich lächelte. Hallo, Kleines, sagte ich. Sie erwiderte mein Lächeln. Das Lächeln wanderte von ihren Lippen zu ihrer Brust, wo es den groÃen Stein, der dort lag, entfernte, bevor es weiter durch den ganzen Körper wanderte und ihre Schlammwasser-Aura in eine helle, gelbgoldene Sonnenschein-Aura verwandelte. Dann sank sie in einen tiefen Schlaf.
Leon kam auf mich zugeeilt. Er bedeutete mir zu kommen. Ich vergewisserte mich, dass Margot schlief, und folgte ihm dann in den benachbarten Schlafsaal, wo alle anderen Engel versammelt waren. Wir warteten eine Weile. Die meisten Kinder schliefen. Tom, grün und blau und blutig von seiner früheren Begegnung mit Hilda, war hellwach und schmiedete einen Fluchtplan aus Rusefog hinaus â er wollte sich den auÃerirdischen Elefanten auf dem Planeten Gymsock stellen.
Toms Schutzengel, Leon, war eigentlich sein Zwillingsbruder. Er war nur wenige Minuten vor Toms Geburt gestorben. Er war genauso zappelig und hatte das gleiche Vogelnest von Haaren auf dem Kopf wie Tom. Nervös rieb er sich die Hände.
Sheren sah nach rechts, und als ich ihrem Blick folgte, konnte ich das Flüstern im Flur hören. Im Licht des Mondes tauchten zwei Köpfe auf: Hilda und Mr. OâHare. Leise bewegten sie sich auf den Schlafsaal zu. Wir traten zur Seite, um sie hereinzulassen â ich kochte innerlich angesichts unserer Machtlosigkeit! â und sahen dabei zu, wie Tom der Mund zugehalten und der Junge aus dem Bett gezerrt wurde. Sie brachten ihn in ein Zimmer im darunter gelegenen Stockwerk. Dort zogen sie ihn aus und schlugen ihn mit einem
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