Tagebuch eines Engels
war üblich, dass Hilda und Mr. OâHare die nackten Ãbeltäter just zur Schlafenszeit aus ihrem Schlafsaal zerrten. Das öffentliche Schauspiel war ein wichtiger Bestandteil der Befriedigung von Hildas Gier nach Bestrafung. Also brachte Margot ein weiteres Gerücht in Umlauf, nämlich dass sie sich vor ihnen verstecken würde, um es ihnen etwas schwerer zu machen. SchlieÃlich war ihre Strafe ohnehin schon schlimm genug. Konnte ja wohl kaum schlimmer werden!
Dieses Gerücht entsprach teilweise der Wahrheit: Margot versteckte sich wirklich. Nach dem Abendessen packte sie â angestachelt von den meisten anderen Kindern â einen Tornister mit ein paar Essensresten und schlich sich den Flur hinunter zum Heizungsraum, wo sie sich eine Wolldecke über die Beine zog und wartete.
Ich informierte die anderen Engel über die bevorstehenden Ereignisse. Sheren sah mich besorgt an. »Du weiÃt doch noch, was passiert, oder etwa nicht?« Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich an diesen Fluchtversuch nicht erinnern, hoffte lediglich inständig, dass er glücken würde. Sheren seufzte, versprach, dass sie tun würde, was sie könne, und kehrte zu Hildas Büro zurück.
Glücklicherweise war es Mr. Kinnaird, der überall die Lichter löschte. Bei seiner Durchzählrunde von Schlafsaal zu Schlafsaal fiel ihm auf, dass Margots Bett leer war.
»Sie ist in der Gruft, Sir«, erklärte Tilly.
»Ach, ja?« Mr. Kinnaird sah in seinen Notizen nach. »Ich weià nichts davon, dass jemand in die Gruft soll. Jedenfalls nicht heute Abend.«
Tilly setzte ein Unschuldsgesicht auf. »Sie haben wohl mal wieder Ihre Brille vergessen, was, Sir?«
Das stimmte. »Oh. Ja, richtig. Na ja. Dann. Hake ich sie wohl besser ab, oder?«
Tilly nickte. Die anderen Kinder im Schlafsaal fingen an zu wispern. Mr. Kinnaird bemerkte es nicht.
Trotz der angenehmen Wärme im Heizungsraum konnte Margot nicht schlafen. Die seltsamen Geräusche, die die Heizungsrohre hin und wieder machten, sorgten dafür, dass sich Margots Magen zusammenzog vor Angst. Was, wenn jemand ihren Plan durchschaut hatte und sie hier herausholte? Ich blieb die ganze Nacht bei ihr, hüllte sie in mein Kleid, wenn sie vor Angst anfing zu zittern, und versprach ihr, dass wir das schon schaffen würden. Die Vision von der Familie im Dorf wurde so klar, dass Margot bereits ihre Gesichter erkennen konnte. Sie wollte so gerne zu ihnen. Sie würde an ihre Tür hämmern und sie anflehen, sie hereinzulassen. Ich bringe Ihnen Frühstück ans Bett. Ich erledige alle Hausarbeiten. Wenn Sie mich nur retten. Wenn Sie mir nur ein Zuhause, eine Familie geben.
Um fünf Uhr wurde die frühmorgendliche Stille vom Knirschen auf dem Kies gestört. Es war noch dunkel, aber einzelne Sonnenstrahlen wagten sich schon über den Horizont. Der Motor des Lieferwagens brummte. Hugh summte schief. Jetzt, sagte ich Margot. Sie schnappte sich ihren Tornister, öffnete leise die Tür und schlich auf Zehenspitzen hinaus in die kalte Morgenluft.
Von der Seitentür aus konnte sie Hugh vor dem Haus sehen. In seinen schweren Stiefeln stapfte er langsam zwischen Lieferwagen und Portal hin und her und entlud Kohlesäcke, Nahrungsmittel und Kleiderspenden aus dem Dorf. Margot wagte kaum zu atmen, und ihr Herz hämmerte wie wild. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Ich bewegte mich auf den Lieferwagen zu, um zu überprüfen, ob man sie sehen konnte, da gaben die Knie unter ihr nach. Ich konnte sie gerade noch auffangen. Ich legte ihr die Arme um die Schultern, das half ihr, sich aufzurappeln. Vielleicht verlange ich zu viel von ihr , dachte ich. Vielleicht ist sie noch nicht so weit.
Hugh stieg wieder ein und lieà den Motor an. Schnell! Sie raste über den Kies, riss die hintere Tür des Lieferwagens auf und sprang hinein. Sie landete auf verdorbenem Gemüse, Kohlesäcken und Brennholz. Der Wagen bewegte sich langsam die Einfahrt entlang auf die HauptstraÃe zu.
Margot hielt sich an den Plan und versteckte sich unter den Kohlesäcken. Ich machte einen Luftsprung. Wir haben es geschafft! Sie ist entkommen! Ich dachte an die Familie im Dorf. Ich stellte mir vor, wie ich der Mutter zuflüsterte, dass Margot die Tochter war, die sie nie bekommen hatte, und dass sie ihr geschickt worden war, auf dass sie ihre Liebe und Fürsorge empfange.
Der Lieferwagen
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