Tagebuch eines Engels
interne Hausarzt war, verordnete zwei Wochen Bettruhe und häufte dem Patienten, einem inneren Drang folgend, immer besonders viel Fleisch und Gemüse auf, wenn es Essen gab. Toms Phantasie war â Leon sei Dank â lebhaft wie nie. Wenn die Nächte besonders dunkel waren, schuf er sich Fluchtwege, die vorher nicht existiert hatten, und fand in versteckten Kisten Schwerter, mit denen er gegen seine imaginären Feinde kämpfte.
Etwa ein Jahr später tauchte ein älterer Cousin auf, um Tom abzuholen und zu sich zu nehmen. Leon ging mit ihm und sorgte dafür, dass Tom mit dem im St.Anthonys Erlebten das machte, was eine Auster mit einem eingedrungenen Sandkorn macht.
Hildas gesteigerte Aufmerksamkeit richtete sich nach Toms Abreise umgehend auf neue hinterhältige Ãbeltäter.
Einer von ihnen war Margot.
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DAS LIED DER SEELEN
Ich fühlte mich, als bewegte ich mich in einem Traum.
Ich durchlebte meine eigenen Erinnerungen an die Zeit, als ich vier, fünf und sechs Jahre alt war, Erinnerungen, die von kindlichen Gefühlen durchdrungen waren â wachgerüttelt durch dieses Wiedererleben und viel zu verwoben mit meinem Verhalten und meinen Ansichten im späteren Leben, als dass sie isoliert als Erinnerungen hätten existieren können.
Mit anderen Worten: Jedes Mal, wenn Margot von Hilda verprügelt, von älteren Kindern geschlagen oder von den anderen Kindern in ihrem Schlafsaal ausgegrenzt wurde, bis sie sich mutterseelenallein fühlte, verband sich der Schmerz darüber, sie so zu sehen, mit der noch viel tiefer sitzenden Pein meiner Erinnerungen. Und das war manchmal schlicht unerträglich.
Wir hörten Geschichten von Engeln, deren Schützlinge Pädophile waren, Serienmörder, Terroristen, und die deren Vergehen quasi täglich schlucken mussten. Beobachten. Beschützen. Aufzeichnen. Lieben. Engel, die ihr sterbliches Leben im Dienste der Kirche verbracht hatten oder als grenzenlos optimistische Hausfrauen, die sich in ihrem unschuldigen, nach Apfelkuchen duftenden Blümchenzuhause um ihre Kinder und Kindeskinder kümmerten, wurden nun mit einem weiteren Leben konfrontiert, in dem sie Drogenhändlern und Zuhältern in düstere Heroinschuppen folgen und dabei zusehen mussten, wie sie ungewollte Babys abtrieben. Gleichzeitig mussten sie diese Wesen vor allem beschützen, was ihre menschlichen Entscheidungen geändert hätte. Mussten sie lieben.
Warum?
Darum, lautete Nans Antwort. Gott lässt keines seiner Kinder allein.
Mir kam meine eigene Situation in jedem Fall schlimmer vor als alle anderen Geschichten, die sich die Engel am St.Anthonys so erzählten. Die waren doch gar nichts im Vergleich zu einem Dasein, bei dem schrecklichste Erinnerungen an die Vergangenheit untrennbar mit der Gegenwart verwoben waren. Sie waren nichts dagegen, dass mir die Trauer jeden Tag die Luft abschnürte. Ich wusste ja schon, worauf das alles hinauslaufen würde. Und ich konnte nichts daran ändern.
In meinen Augen waren wir nichts weiter als Teil einer Lotterie. Ich bombardierte Nan mit Fragen. Wie wurden wir unseren jeweiligen Schützlingen zugeteilt? Wieso bin ich ausgerechnet Margots, mein eigener Schutzengel? Hatte es damit zu tun, wie ich gestorben war?
Ich nahm Sheren in die Zange und fragte sie, wie sie gestorben sei.
»Fünfzig Aspirin und eine Flasche Sherry.«
»Das heiÃt, Selbstmörder kehren als ihre eigenen Schutzengel zurück? Willst du damit sagen, dass ich mich umgebracht habe?«
»Nicht unbedingt.«
»Was denn dann?«
»Ich habe mal einen Engel kennengelernt, der das Gleiche durchmachte wie wir beiden. Und er sagte, es hätte damit zu tun, wie wir gelebt haben.«
»Und was soll das heiÃen?«
Sie zeigte auf Hilda, die gerade einem vierjährigen Mädchen, das ins Bett gemacht hatte, einen ihrer arthritischen Finger ins Gesicht bohrte.
»Du kennst doch das Lied der Seelen, oder?«
»Das was?«
Sheren schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Ich kam mir ziemlich blöd vor.
»Das ist der Unterschied zwischen uns und anderen Engeln. Wenn man sein eigenes sterbliches Selbst beschützt, verfügt man über erweiterte Fähigkeiten, diesen Menschen zu beeinflussen und zu beschützen. Guck mal zu.«
Sie ging auf Hilda zu. Ãber ihrem Kopf zirkulierten schon die ersten Gedanken an die Gruft â sie hatte vor, das Mädchen
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