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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Ziegelstein. Als er das Bewusstsein verlor, weckten sie ihn mit einem Schwall kalten Wassers wieder auf, damit er auch mitbekäme, dass er in die Gruft gebracht wurde. Diese Maßnahme diente wiederum der allgemeinen Einschüchterung: Die verzweifelten Schreie eines Kindes mitten in der Nacht erfüllten die anderen Kinder mit einer Angst, die sie den Rest ihres Lebens nicht mehr loswurden. Und sorgten dafür, dass sie spurten.
    Ich vergewisserte mich noch einmal, dass Margot auch wirklich schlief, und folgte dann dem Pulk von Engeln zur Gruft, die sich in einem Außengebäude direkt neben dem Abwassertank befand. Käfer, Kakerlaken und Ratten versammelten sich in dem Rohr, aus dem Abwasserreste in die Gruft schwappten. Die stinkende, zähflüssige Masse stand etwa fünf Zentimeter hoch in der Gruft. Mittendrin befand sich ein großer Stein, der aus dem Schleim herausragte und auf dem die Delinquenten sitzen konnten. Tom flehte Hilda und Mr. O’Hare an, übergab sich, ließ die nackten Füße über den Kies schleifen, bis sie bluteten. Wir quetschten uns alle in die Gruft. Ich war die Letzte, die hineinging. Einen Augenblick lang stand ich da und erinnerte mich daran, wie ich als Achtjährige hier hereinkam. Jenes Erlebnis hat mein Leben auf erschreckende Weise geformt. Es schwang in jedem Einzelnen meiner späteren Albträume unterschwellig mit. Es war die erste Stufe auf der Leiter, die mich in den Abgrund des Alkoholismus führte.
    Ich hielt die Luft an und kroch hinein. Die Tür war zu, aber wir konnten alle das Trio sehen, das auf uns zukam: Mr. O’Hare und Hilda, die Tom flankierten und ihn halb trugen, halb zerrten. Als der Junge begriff, wo er war, setzte er sich mit allerletzter Kraft zur Wehr. Sie ließen ihn ein paar Minuten toben. Dann schlug ihn eine kalte Faust bewusstlos. Er landete mit dem Gesicht in der Kloake. Sie schlossen die Tür hinter ihm ab.
    Behutsam hob Leon Toms Kopf an und legte ihn so auf den Stein, dass er atmen konnte. Einer der Tom zugefügten Schläge hatte zu einem Blutgerinnsel in der linken Kopfhälfte geführt. Ohne Behandlung würde es in sein Gehirn wandern und ihn bis zum Morgen töten. Leon legte die Hände auf Toms Kopf. Sofort strömte goldenes Licht aus seinen Handflächen, und das Blutgerinnsel löste sich auf.
    Als Tom aufwachte, zitterte er vor Kälte. Er stand unter Schock. In seiner eigenen lebhaften Phantasie hätte er sich nie einen solch grauenvollen Ort wie die Gruft ausmalen können. Die wahren Herren über dieses Territorium, das Viehzeug aus dem Rohr, kroch hervor, durchwanderte Toms Haare, rückte zu seinen Genitalien vor und knabberte an seinen Füßen. Sheren sorgte für einen blauen Blitz, woraufhin die Kriechtiere sich zurückzogen. Sie ließen Tom dann auch in Frieden. Doch die Angst und der Abwassergeruch sorgten dafür, dass er sich in beide Richtungen entleerte, bis sein Magen schmerzte. Den Rest der Nacht weinte und schluchzte er, nur unterbrochen von hilflosen Rufen nach seiner Mutter. Er bemerkte nicht, dass Leon ihn umschlungen hielt und ebenfalls weinte.
    Ich bewegte mich zwischen der Gruft und Margot hin und her, um sicherzustellen, dass bei ihr alles in Ordnung war. In der vierten Nacht fing Tom an, vor Hunger und Durst zu halluzinieren. Er sah seine Eltern. Und was noch schlimmer war: Er sah, wie seine Eltern ermordet wurden. Seine Schreie waren bis ins Haupthaus zu hören. Hilda schickte Mr. Kinnaird, den Hauswart, mit einem Eimer kalten Wassers und einer Scheibe Brot zur Gruft. Sheren sorgte dafür, dass Mr. Kinnaird sich verhörte und Tom einen ganzen Laib Brot brachte. Der Junge verschlang ihn heißhungrig.
    Jeden Abend, wenn die Sonne unterging und Toms Angst eskalierte, stellten wir uns in einem Kreis um ihn herum auf und legten die Handflächen aneinander. Es entstand eine Lichtkuppel über dem Jungen, unter der er Ruhe empfinden und einschlafen konnte. Am letzten Abend, als Leon die letzten von Toms schlimmsten Wunden heilte, fiel mir auf, dass er einen Bluterguss an seinem Gehirn nicht anrührte, und ich fragte ihn, warum. »Hat mit seinem Gedächtnis zu tun«, erwiderte er. »Wenn ich das so lasse, wird er das Schlimmste vergessen.«
    Und so kam es, dass der zum Skelett abgemagerte nackte Junge, den Hilda und Mr. O’Hare nach zwei Wochen aus der Gruft schleiften, überlebte. Mr. Kinnaird, der gleichzeitig der

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