Tagebuch eines Engels
schmerzlich vermisst hatte: Ihre weichen, drallen Hände, die immer nur gaben. Ihre Art, Graham mit dem Ellbogen in den Bauch zu knuffen, wenn er einen Witz gemacht oder etwas Unpassendes gesagt hatte, während sie selbst ein Kichern unterdrückte. Ihre Angewohnheit, sich über den Pferdeschwanz zu streichen, wenn sie nachdachte. Die Innigkeit ihrer samtweichen, nach Rosen duftenden Umarmung. Wenn sie in der Nähe gewesen wären, als Theo geboren wurde ⦠Na ja, lassen Sie es mich so sagen: Ich glaube, mein Leben wäre ein kleines bisschen leichter gewesen.
Aber ich schweife ab. Habe einen Moment den Faden verloren. Ich ging in den Garten, wo Gin, der liebste schwarze Labrador der Welt, freudig auf mich zusprang. Unter dem Apfelbaum stand Nan. Schnellen Schrittes kam sie auf mich zu. Ich legte die Arme um sie und schluchzte.
»Nan!«, heulte ich in ihre warme Schulter. »WeiÃt du, wen ich gerade gesehen habe?«
Sie nickte und packte mich bei den Schultern. »Ja, ja, natürlich. Ich weiÃ. Jetzt mal ganz ruhig â¦Â«
Ich schluckte. Ich versuchte, mich zu beherrschen. Was auch immer Nan da mit meinen Schultern machte, brachte mich sozusagen auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie beruhigte mich. Umgehend.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich war nur â¦Â«
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen. »Komm, wir gehen ein Stück«, sagte sie. »Wir müssen uns unterhalten.«
Bevor ich von dieser Unterhaltung berichte, muss ich eine Erinnerung loswerden.
Es war in der Woche, bevor Mama starb. An einem Samstagmorgen. Ich wachte mit einem seltsamen Gefühl im Bauch auf. Es lag eine greifbare, drückende Stille über dem Haus. Keine friedliche Stille. Mehr eine unruhige Stille, eine Art Vorhölle. Mein Herz raste ohne ersichtlichen Grund. Ich stand auf und sah nach Mama. Sie lag noch im Bett. Ihr Gesicht hob sich wie ein gelber Fleck von den weiÃen Laken ab. Durch das Fenster sah ich Papa, wie er mit Gin zum Morgenspaziergang aufbrach. Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Das seltsame Gefühl wurde immer intensiver, es wurde zu einem schweren Klumpen im Bauch. Irgendetwas passiert heute, ging es mir durch den Kopf. Wir wussten bereits, dass Mama krank war. Es war nicht ihr Tod, den ich vorausahnte. Ich überlegte, ob in der Nacht hier in der Gegend vielleicht jemand ermordet worden war â so ähnlich fühlte sich diese Vorahnung an. Schwer. Unheimlich. War da jemand im Haus? So langsam und vorsichtig, wie ich konnte, ging ich die Treppe hinunter, ganz leise. Unten angekommen, mahnte ich mich selbst, mich zusammenzureiÃen. Ich nahm Papas leere Kaffeetasse von der Fensterbank und tapste ins Wohnzimmer. Als ich es betrat, stieà ich einen Schrei aus. Ãber dem Kamin lehnte ein hochgewachsener Mann im Nadelstreifenanzug â aber der Mann hatte keine Beine, sondern stand auf dunklen Rauchsäulen, als würde er brennen oder sich auflösen. Als er sich zu mir umdrehte, sah er mich aus komplett schwarzen Augen an, worüber ich so erschrak, dass ich Papas Tasse fallen lieà und diese in tausend Stücke zerbarst. Als ich erneut hinsah, war der Mann verschwunden.
Ich habe nie jemandem von diesem Erlebnis erzählt.
Doch das, worüber Nan mit mir sprechen wollte, versetzte mich genau in diese Zeit zurück. Sie sprach von meiner Erinnerung, als sei sie selbst dabei gewesen, und sie bezeichnete den Mann ohne Beine nicht als eine Ausgeburt meiner etwas zu lebhaften Phantasie, nicht als einen Geist, sondern als Grogor. Und Grogor ist ein Dämon, erzählte sie mir. Er war bereits dort. Ich würde schon bald seine Bekanntschaft machen.
Bis dahin war ich Dämonen immer nur in Form von Schatten und düsteren atmosphärischen Einflüssen begegnet, noch nie als einzelnen Wesen. Ich hatte die Dämonen gesehen, die in Sally lebten. Befand sich einer von ihnen nur knapp unter der Oberfläche, verschloss sich ihre Miene, und ihre Aura verfärbte sich häufig von Orange hin zu Nachtschwarz. Ich hatte einen dunklen Nebel über der Eingangshalle von St.Anthonys gesehen, der sich manchmal wie zu einem schwarzen Gestrüpp verdichtete, sodass die Engel um ihn herumgehen mussten. Und manchmal, wenn ich mir Hilda eingehend betrachtete, kam es mir vor, als habe eine Erweiterung ihrer Aura sich wie ein schlechter, Bösartigkeit und Verachtung verbreitender Einfluss auf alles gelegt. Doch alles
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