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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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Literatur erwischen würde. Letzteres war jedoch eher selten. Die Bücher beflügelten ihre Phantasie und warfen so viele konkrete Fragen auf, die dringend beantwortet werden mussten: War Heathcliff Ire? Waren Hamlet und Ophelia Geschwister oder Geliebte? Margot las und las und las. Sie wollte zu den abendlichen Gesprächen etwas beitragen können, statt stumm dazusitzen und sich zu fragen, ob Caliban und Äneas Menschen oder Planeten waren. Und außerdem stellte sie sich gerne neuen Herausforderungen.
    Ich sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass Nans Bemerkung, ich sei nicht in der Lage, Gottes Macht in ihrer Ganzheit zu verstehen, mich seither beschäftigt hatte. Ich hatte Irinas Schutzengel bereits ein paar Mal gesehen, Grahams dagegen noch gar nicht. Mir fehlte die Gemeinde von Schutzengeln am St.Anthonys. Ich fragte mich immer mehr, wieso ich sie nicht die ganze Zeit sah, warum ich nicht von Dämonen und Geistern umschwirrt wurde und warum ich mich manchmal wie ein Mensch fühlte.
    Doch ich wusste ja, dass Grogor da war, und es wurmte mich, dass er durch seine Unsichtbarkeit die Oberhand hatte. Vielleicht musste ich nur etwas intensiver nach ihm suchen.
    Und dann, eines Abends, als Graham, Irina und Margot Sylvia Plaths Drei Frauen diskutierten, passierte es. Graham hatte einen Witz über Roman Polanskis Film Rosemarys Baby gerissen, und er und Irina lachten, sodass Margot sich den Filmtitel sofort merkte und sich vornahm, den Streifen baldmöglichst zu sehen, um mitreden zu können. Immer noch lachend, stand Irina auf und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Sachte schloss sie die schwere Tür zwischen sich und den beiden anderen. Ich sah, wie ihr Lächeln ganz plötzlich erstarb. Sie stützte sich an der Küchenspüle ab und sah durchs Fenster in die Nacht hinaus. Dann ließ sie langsam den Kopf hängen, und große, heiße Tränen tropften in den Spülstein. Ich wollte gerade zu ihr, um sie trösten, als ein Mann an ihrer Seite erschien. Er legte den Arm um sie und den Kopf auf ihre Schulter. Einen Moment lang nahm ich an, er sei ihr Schutzengel, doch dann bemerkte ich den Nadelstreifenanzug und die hässlichen Rauchsäulen statt seiner Beine. Er hielt sie wie ein Liebhaber, flüsterte ihr etwas zu, strich ihr übers Haar.
    Irinas Schutzengel tauchte draußen vor dem Fenster auf. Er sah wütend aus, drückte die Hände gegen die Scheibe und rief, wir sollten ihn wieder hereinlassen. Es war, als habe man ihn ausgesperrt. Ich sah von Grogor zum Engel auf der anderen Seite des Fensters. Ich verstand das nicht. Was auch immer Grogor Irina zuflüsterte, verstörte sie offenbar nur noch mehr, und aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund konnte ihr Schutzengel nichts dagegen tun.
    Ich schritt ein.
    Â»Hey«, sagte ich laut.
    Ohne den Arm von Irinas Schultern zu nehmen, wandte Grogor mir den Kopf zu und grinste. Ich wich dem Blick aus seinen widerlichen schwarzen Augen aus, in denen seine Pupillen wie in Teer gebettet waren. Seine Haut wirkte wächsern. »Ich habe gehört, dass du wegen mir hier bist«, sagte ich.
    Wie in Zeitlupe drehte er sich wieder zu Irina um. »Hey!«, rief ich. »Ich rede mit dir!«
    Bevor ich oder Irinas Schutzengel etwas tun konnte, langte Grogor in Irinas Körper, als griffe er in einen Schrank, und legte etwas hinein. Irinas Engel schlug mit den Fäusten gegen die Scheibe, dann verschwand er. Das tat Grogor auch, aber nur, um eine Sekunde später direkt vor mir wieder aufzutauchen. Er musterte mich von oben bis unten.
    Â»Aha. Das ist also aus dir geworden.« Ich konnte seinen Akzent nicht recht zuordnen. Zu meiner Überraschung näselte er ziemlich.
    Â»Die Antwortet lautet ›Nein‹, und jetzt verzieh dich.«
    Er lächelte. Es schüttelte mich vor Ekel, als ich sah, dass er keine Zähne hatte, sondern einfach nur eine nasse, graue Mundhöhle. Dann nickte er. »Nandita hat dich also schon vorbereitet, ja? Aber ich wette mit dir, dass sie dir noch nicht alles erzählt hat.«
    Â»Ich bin mir sicher, dass sie genug erzählt hat«, behauptete ich.
    Er spuckte mich an. Das tat er wirklich. Er schleuderte schwarzen, klebrigen Schleim aus den Tiefen jener stinkenden Mundhöhle auf mich. Dann verschwand er.
    Ich wischte mir das Gesicht ab und kämpfte gegen den Brechreiz.
    Im selben Moment richtete Irina sich auf. Sie sah aus, als

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