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Tagebuch eines Engels

Tagebuch eines Engels

Titel: Tagebuch eines Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolyn Jess-Cooke
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bekommen hatte. Es lag jetzt auf der Intensivstation. Die anderen Kinder waren auf diverse Pflegefamilien und andere Waisenhäuser im ganzen Land verteilt worden. Hilda Marx fand man in ihrem Büro, eine leere Dose Tabletten in der einen, eine leere Flasche Sherry in der anderen Hand, ohne Puls.
    Im Radio (die Inglis hatten keinen Fernseher) wurde
ein Interview mit Regierungsvertretern gesendet, die gelobten, sich mit allen Mitteln dafür einzusetzen, den staatlichen Kinderheimen mehr Geld zur Verfügung zu stellen, und umgehend bessere Bedingungen im Bereich der Kinderversorgung zu schaffen. Irina sah zu Margot hinüber, die mit großem Appetit eine Hühnerbrühe verspeiste.
    Â»Du kannst wirklich stolz auf dich sein, mein Schatz«, sagte sie. »Das ist alles dir zu verdanken.«
    Margot lächelte und senkte den Blick. Als sie wieder aufschaute, stand Irina immer noch direkt neben ihr. Langsam ging sie neben Margot in die Knie – sie waren so arthritisch, dass sie immer knackten, wenn sie das tat – und nahm die schmalen, kalten Kinderhände in ihre.
    Â»Graham und ich möchten gerne, dass du so lange hier bleibst, wie du willst«, sagte sie. »Das heißt, wenn du überhaupt willst.«
    Margot nickte schnell. »Ja«, flüsterte sie.
    Irina lächelte. Ihr Lächeln erinnerte mich sehr an Nans. Wahrscheinlich habe ich Nan darum gleich von Anfang an vertraut. Auf Irinas Gesicht zeichneten sich Falten ab, ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen karibisch blau, ihre Haare mädchenhaft dick und blond. Sie hatte sie zu einem fröhlich wippenden Pferdeschwanz gebunden. Sie kniff die Augen zusammen. Mit einem Mal erstarb ihr Lächeln. Margot dachte einen Augenblick lang, sie hätte etwas falsch gemacht.
    Â»Bist du ein Geist? Willst du mich verfolgen?«, fragte Irina sehr ernst.
    Eine Gedankenblase stieg über Margots Kopf auf. Ich weiß noch, wie ich das damals dachte: Redet sie mit mir? Ihr stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
    Irina strich Margot einige lose Haarsträhnen hinters Ohr. Dann sagte sie, wie zur Erklärung: »Es ist nur … du siehst fast genauso aus wie ich als Kind. Und da dachte ich …«
    Doch für Margot war das alles andere als eine Erklärung. Sie war jetzt vollends verwirrt und hatte Angst, dass man sie auf die Straße setzen würde. Nur ich begriff jetzt, was Irina dachte: dass Margot der Geist des Kindes war, das sie seinerzeit abgetrieben hatte. Ich ging zu Margot, legte ihr die Hand auf die Schulter und löste ihre Ängste in Wohlgefallen auf.
    Â»Ach, nichts«, sagte Irina leise. »Menschen wie ich fangen an, zu spinnen, wenn sie zu lange leben.« Sie erhob sich und holte Margot ein frisches Toastbrot.
    Graham und Irina waren beide Schriftsteller. Graham produzierte unter dem Pseudonym Lewis Sharpe einen drastischen, provozierenden Krimi nach dem anderen, während Irina Gedichte für ein kleines, aber treues Lesepublikum schrieb. Sie war zu scheu, um Lesungen zu geben, und schrieb ihre Lyrik langsam und mit Bedacht, neben dem Kamin sitzend. Alle vier Jahre entstand so ein schmaler Band ruhiger, höchst bewegender Gedichte. Ihre neueste Sammlung trug den Titel Das Karussell der Erinnerungen und war fast fertig.
    Abends hörten sie Radio oder – was noch häufiger vorkam – führten leidenschaftliche Gespräche über Literatur. Margot wurde plötzlich Zeugin heftiger Debatten darüber, ob Lady Macbeth Kinder hatte oder nicht (»Selbstverständlich hatte sie Kinder! Wieso hätte sie denn sonst vom Stillen reden sollen?« – »Das ist doch nur eine Metapher, Irina! Eine List, um Macbeth dazu zu bewegen, Duncan umzubringen!« usw.) oder darüber, wer nun besser gewesen sei, Sylvia Plath oder Ted Hughes (»Das kann man doch gar nicht messen! Wieso sollte er besser gewesen sein?« – »Weil er sich so’n Psycho-Gequatsche von Wespennestern verkneift!« – »Wie bitte?!?« usw.).
    Fasziniert verschlang Margot alles, was sie von Plath, Hughes, Shakespeare, Plautus, Vergil, Dickens, Updike, Parker, Fitzgerald und den Brontë-Schwestern finden konnte. Im St.Anthonys hatte es nur eselsohrige, dem Heim von Wohltätigkeitsvereinen oder Schulen überlassene Remittenden zum Lesen gegeben, die eine so heterogene Sammlung ergaben, dass Margot nie wissen konnte, ob sie als Nächstes einen Groschenroman oder klassische

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