Tagebuch eines Engels
das Letzte, was Papa jetzt gebrauchen kann. Ja, das waren starke Worte, denn ich war selbst vollkommen entsetzt von seinem Anblick. Und damit meine ich nicht seine körperliche Verfassung, sondern seine Aura: Das sein Herz umgebende Licht war zerrissen in Dutzende von Lichtbändern, die schlapp herunterhingen und nur ganz schwach pulsierten, wie kleine Blutungen aus einer nicht verheilenden Wunde. Ãber seinem Kopf tobte nicht mehr das energiegeladene Feuerwerk seiner Intelligenz und Kreativität â die Lunten waren feucht, und alles verschwand in einer Art Nebel.
Andererseits war Graham ganz der Alte, indem er Toby anerkennend auf den Rücken klopfte, bevor er ihn zur Seite schob, um Margot zu begrüÃen. Sie drückte das tränennasse Gesicht gegen seine Schulter und umarmte ihn fest.
»Papa«, flüsterte sie und sog seinen Geruch ein.
Graham antwortete nicht. Er schluchzte.
Als sie bei Graham zu Hause angekommen waren, ging Margot sofort ins Bett, um den Jetlag zu überwinden. Toby inspizierte unterdessen die Romane, die Grahams Bücherregale füllten und mit dem Namen Lewis Sharpe und einem Foto von Graham versehen waren. Gaia, ich, Bonnie und die beiden Männer saÃen am tanzenden Kaminfeuer. Erst schwiegen die beiden eine Weile, dann ergriff Graham das Wort:
»Wie hast du sie dazu gebracht, Ja zu sagen?«
Toby hustete kurz in seine Faust. »Ach, Sie meinen, wie ich um ihre Hand angehalten habe? Also, ich holte den Ring raus, sozusagen als Bestechung, und dann stellte ich die Frage der Fragen â¦Â«
Graham lächelte schwach. Er beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Knien auf. Mir fiel auf, dass sein rechter Mundwinkel etwas schräg hing. »Nein. Was ich meine, ist Margot. Es ist doch leichter, einen Kolibri mit dem Lasso einzufangen, als aus Margot eine Ehefrau zu machen. So hat meine Frau das immer gesagt. Margot ist immer der reinste Wildfang gewesen. Was hat sich verändert?«
Toby dachte eine Weile nach. Ich sah die Fotos von Irina und Margot auf dem Kaminsims und wurde traurig. Ich hatte nicht gewusst, dass Papa mich so sah.
»Na ja, wissen Sie, Sir«, sagte Toby und kratzte sich den Bart. »Ich weià schon, dass Margot so wirken kann. Und da treffen Sie den Nagel wirklich auf den Kopf. Aber ich glaube, dass sie sich ganz tief in ihrem Herzen genau das mehr als alles andere auf der Welt wünscht. Sie gibt sich so flatterhaft und unverbindlich, weil das Leben sie gelehrt hat, dass feste Bindungen Schmerzen bedeuten.«
Graham nickte. Bedächtig griff er nach der Whiskyflasche auf dem Couchtisch vor sich und schenkte ihnen beiden ein Glas ein.
»Ich möchte dir etwas Wichtiges sagen«, kündigte Graham leise an.
Alarmiert von Grahams ernstem Ton, setzte Toby sich ihm gegenüber und nickte.
Graham trank sein Glas in einem Zug aus und stellte es unsanft wieder ab. Dann blickte er Toby direkt in die Augen. »Ich sterbe«, sagte er.
Es entstand eine lange Pause, in der Toby nur langsam die Bedeutung dieser Worte begriff. »Ich bin ⦠das ist ⦠Das tut mir wirklich sehr leid, Sir.«
Graham winkte ab. »Das war es noch nicht, was ich dir sagen wollte. Das war nur das Vorwort.« Er räusperte sich. »Ich sterbe, und ich habe auch überhaupt nichts dagegen. Meine Frau ist auch schon irgendwo da drauÃen. Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen. Mir geht es um Margot.« Er rutschte in seinem Sessel ganz bis nach vorne, so dicht an Toby heran, dass Toby das Kaminfeuer in den Augen des alten Mannes tanzen sehen konnte. »Ich kann erst sterben, wenn ich weiÃ, dass du für mich auf Margot aufpassen wirst.«
Toby lehnte sich zurück und begriff die Sorge in Grahams Blick. Jetzt war alles ganz klar. Er kratzte sich am Bart und lächelte. Die Bürde, die Grahams traurige Nachricht bedeutete, wurde ihm durch ein überwältigendes Gefühl der Freude erleichtert. Er freute sich, konnte ich sehen, dass Graham Margot so sehr liebte. Er freute sich, dass Graham ihm vertraute. Dass er ihm das Wertvollste, das er besaÃ, anvertraute: seine einzige Tochter.
Dann, endlich, gab er ihm die einzige Antwort, für die er voll und ganz einstehen konnte:
»Ich werde sie nie mehr loslassen. Versprochen.«
Das Feuer im Kamin erstarb. Graham lächelte angesichts von Tobys Wortwahl, lehnte sich im Sessel zurück und schlief sofort ein.
Als Toby später
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