Tagebuch Eines Vampirs 05. Rückkehr Bei Nacht
Notfall war er nicht wählerisch, was die Spender betraf. Blut war Blut, in welchem Gefäß es sich auch befand. Einige Minuten nachdem man ihm gezeigt hatte, wie das kleine Spielzeug funktionierte, spazierte er mit der Kamera in der Tasche den Gehsteig entlang.
Er genoss es, einfach so zu gehen, obwohl seine Reißzähne wieder schmerzten.
Seltsam, er hätte gesättigt sein müssen - aber andererseits hatte er gestern fast nichts zu sich genommen. Das musste der Grund sein, warum er immer noch Hunger hatte; das und die Macht, die er gegen den verdammenswerten Parasiten in Carolines Zimmer eingesetzt hatte. Aber in der Zwischenzeit erfreute er sich daran, wie glatt und geschmeidig seine Muskeln zusammenspielten, wie eine gut geölte Maschine, sodass jede Bewegung eine Freude war.
Er streckte sich einmal, einfach aus purer, animalischer Wonne heraus, dann hielt er wieder inne, um sich im Schaufenster einer Antiquitätenhandlung zu betrachten. Eine Spur zerzauster, aber schön wie eh und je. Und er hatte recht gehabt; die Ray Ban stand ihm umwerfend gut. Die Antiquitätenhandlung gehörte, wie er wusste, einer Witwe mit einer sehr hübschen, sehr jungen Nichte.
Der Laden war düster und klimatisiert.
»Weißt du«, fragte er die Nichte, als sie kam, um ihn zu bedienen, »dass du mir wie jemand vorkommst, der gern viele fremde Länder sehen würde?«
Einige Zeit nachdem Stefano Elena erklärt hatte, dass der Besuch ihre Freunde seien, ihre guten Freunde, wollte er, dass sie sich anzog. Elena verstand nicht, warum. Es war heiß. Sie hatte sich angewöhnt, ein Nachthemd zu tragen (zumindest während des größten Teils der Nacht), aber tagsüber war es noch wärmer, und sie hatte kein Taghemd.
Außerdem waren die Kleider, die er ihr anbot - eine seiner Jeans mit hochgekrempelten Säumen und ein Poloshirt, das viel zu groß sein würde -, ...
irgendwie falsch. Als sie das Shirt berührte, empfing sie Bilder von Hunderten von Frauen in kleinen Räumen, die alle bei schlechter Beleuchtung Nähmaschinen benutzten und alle hektisch arbeiteten.
»Aus einem Ausbeutungsbetrieb, einem Sweatshop?«, fragte Stefano erschrocken, als sie ihm das Bild in ihrem Kopf zeigte. »Das da?« Er warf das Kleidungsstück hastig auf den Boden des Schranks.
»Was ist mit dem hier?« Stefano reichte ihr ein anderes Hemd.
Elena betrachtete es ernst und hielt es an ihre Wange. Keine schwitzenden, hektisch nähenden Frauen.
»Okay?«, fragte Stefano. Aber Elena war erstarrt. Sie ging zum Fenster und spähte hinaus.
»Was ist los?«
Diesmal sandte sie ihm nur ein einziges Bild. Er erkannte es sofort.
Damon.
Stefano wurde eng um die Brust. Sein älterer Bruder hatte ihm inzwischen über ein halbes Jahrtausend lang das Leben so schwer wie nur möglich gemacht. Wann immer es Stefano gelungen war, von ihm fortzukommen, hatte Damon ihn aufgespürt, auf der Suche nach ... was? Rache? Nach irgendeiner letzten Befriedigung? Sie hatten einander im selben Augenblick getötet, damals im Italien der Renaissance. Ihre Schwerter hatten beinahe gleichzeitig ihre Herzen durchstoßen, in einem Duell um ein Vampirmädchen. Von da an war es immer nur bergab gegangen.
Aber er hat dir auch einige Male das Leben gerettet, dachte Stefano mit jäher Verwirrung. Und ihr habt versprochen, übereinander zu wachen, aufeinander achtzugeben ...
Stefano warf Elena einen scharfen Blick zu. Sie war diejenige gewesen, die sie beide dazu gebracht hatte, den gleichen Schwur zu tun - als sie im Sterben gelegen hatte. Elena erwiderte seinen Blick mit Augen, die feuchte, tiefe, blaue Teiche der Unschuld waren.
In jedem Fall würde er sich mit Damon beschäftigen müssen, der jetzt vor der Pension seinen Ferrari neben Stefanos Porsche parkte.
»Bleib hier drin und - und halt dich vom Fenster fern. Bitte «,sagte Stefano hastig zu Elena. Dann eilte er aus dem Raum, schloss die Tür und rannte beinahe, als er die Treppe hinunterlief.
Damon stand neben dem Ferrari und betrachtete die verfallene Fassade der Pension - zuerst mit Sonnenbrille, dann setzte er sie ab. Aber sein Gesichtsausdruck sagte, dass es keinen großen Unterschied machte, auf welche Weise man sie auch immer ansah.
Aber das war nicht gerade Stefanos brennendste Sorge. Es war Damons Aura und die Vielzahl verschiedener Gerüche, die ihm anhaftete - die keine menschliche Nase jemals würde wahrnehmen, geschweige denn entwirren können.
»Was hast du getan?«, fragte Stefano, zu schockiert, um auch nur eine
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