Tagebücher: 1909-1923
kurzer Schnurrbart, dunkle ein wenig zu scharfe Augen, kräftiger ebenmäßiger Hals. Einmal blieb er im Vorübergehn in der Tür unserer Werkstatt stehn und fragte die Rechte oben am Türbalken: Ist Franz hier? Er kannte alle Leute bei Namen. Ich drängte mich aus meinem dunklen Winkel zwischen den Gesellen durch. “Komm mit” sagte er nach kurzem Blick. “Er übersiedelt ins Schloß” sagte er zum Meister.
30. (Juli 1917) Frl. Kanitz. Verlockungen mit denen das Wesen nicht mitgeht. Das Auf und Zu, das Dehnen, Spitzen, Aufblühn der Lippen, als modellierten dort unsichtbar die Finger. Die plötzlich, wohl nervöse, aber discipliniert angewandte, immer überraschende Bewegung z. B. Ordnen des Rockes auf den Knien, Änderung des Sitzes. Die Konversation mit wenig Worten, wenig Gedanken, ohne jede Unterstützung durch die andern, in der Hauptsache durch Kopfwendungen, Händespiel, verschiedenartige Pausen, Lebendigkeit des Blicks, im Notfall durch Ballen der kleinen Fäuste erzeugt.
Reitet sagte der Kommandant.
Er entwand sich ihren Kreisen. Nebel umblies ihn. Eine runde Waldlichtung. Der Vogel Phönix im Gebüsch. Eine das Kreuz auf unsichtbarem Gesicht immer wieder schlagende Hand. Kühler ewiger Regen, ein wandelbarer Gesang wie aus atmender Brust.
Ein unbrauchbarer Mensch. Ein Freund Suche ich mir gegenwärtig zu machen, was er besitzt, so bleibt, bei günstigstem Urteil allerdings nur, seine meiner Stimme gegenüber etwas tiefere Stimme. Rufe ich “Gerettet”, ich meine, wäre ich Robinson und riefe “Gerettet”, wiederholte er es mit seiner tiefernStimme. Wäre ich Korah und riefe “Verloren”, wäre er gleich mit seiner tiefern Stimme dabei, es zu wiederholen. Es ermüdet allmählich immer diesen Baßgeiger mit sich zu führen. Dabei ist er selbst gar nicht munter bei der Sache, er wiederholt nur, weil er es muß und nichts anderes kann. Manchmal während meines Urlaubs, wenn ich einmal Zeit habe, diesen persönlichen Dingen mich zuzuwenden, berate ich mit ihm, in der Gartenlaube etwa, wie ich mich von ihm befreien könnte.
31. Juli 17 Als Kaspar Hauser soweit aufgewacht war, daß er Menschen und Dinge um sich erkannte
In einem Eisenbahnzug sitzen, es vergessen, leben wie zuhause, plötzlich sich erinnern, die fortreißende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden, kindlich dies fühlen, ein Liebling der Frauen werden, unter der fortwährenden Anziehungskraft des Fensters stehn, immer zumindest eine ausgestreckte Hand am Fensterbrett liegen lassen. Schärfer zugeschnittene Situation: Vergessen daß man vergessen hat, mit einem Schlage ein im Blitzzug allein reisendes Kind werden, um das sich der vor Eile zitternde Waggon anstaunenswert im Allergeringsten aufbaut wie aus der Hand eines Taschenspielers.
1 Aug (1917) Altprager Geschichten des Dr. Oppenheimer auf der Schwimmschule. Die wilden Reden gegen die Reichen, die Friedrich Adler in seiner Studentenzeit führte und über die alle so gelacht haben. Später heiratete er reich und wurde still. – Als kleiner Junge, aus Amschelberg nach Prag ans Gymnasium gekommen, wohnte Dr. O. bei einem jüdischen Privatgelehrten, dessen Frau Verkäuferin in einem Trödlerladen war. Das Essen wurde von einem Traiteur geholt. Um 1/2 6 wurde O. jeden Tag zum Gebet geweckt. – Er sorgte für die Erziehung aller seiner jüngern Geschwister, das machte viel Mühe, gab aber Selbstsicherheit und Zufriedenheit. Ein Dr. Adler, der später Finanzrat wurde und längst in Pension ist (ein großer Egoist), gab ihm damals einmal den Rat, wegzufahren, sich zu verstecken, vor seinen Angehörigen einfach wegzulaufen, denn sonst würden sie ihn zugrunderichten
Ich spanne die Zügel an.
2. Aug. (1917)
Meistens wohnt der den man sucht nebenan. Zu erklären ist dies nicht ohne weiters, man muß es zunächst als Erfahrungstatsache hinnehmen. Sie ist so tief begründet daß man sie nicht verhindern kann, selbst wenn man es darauf anlegt. Das kommt daher daß man von diesem gesuchten Nachbar nicht weiß. Man weiß nämlich weder daß man ihn sucht, noch daß er daneben wohnt, dann aber wohnt er ganz gewiß daneben. Die allgemeine Erfahrungstatsache als solche darf man natürlich kennen, diese Kenntnis stört nicht im allermindesten, selbst wenn man sie absichtlich sich immer gegenwärtig hält. Ich erzähle einen solchen
Weitere Kostenlose Bücher