Tagebücher: 1909-1923
nicht, alle Götter der Rache stürzten auf mich herab, ich sah ihren wütenden Obersten die Finger wild spreizen und mir drohen oder fürchterlich Cymbel schlagen. Die Aufregung der 2 Stunden bis 7 Uhr verzehrte nicht nur den Schlafgewinn, sondern machte mich den ganzen Tag über zittrig und unruhig.
Ohne Vorfahren, ohne Ehe, ohne Nachkommen, mit wilder Vorfahrens-, Ehe- und Nachkommenslust. Alle reichen mir die Hand: Vorfahren, Ehe und Nachkommen, aber zu fern für mich.
Für alles gibt es künstlichen, jämmerlichen Ersatz: für Vorfahren, Ehe und Nachkommen. In Krämpfen schafft man ihn und geht, wenn man nicht schon an den Krämpfen zugrunde gegangen ist, an der Trostlosigkeit des Ersatzes zugrunde
22 (Januar 1922) Nächtlicher Entschluß
Die Bemerkung hinsichtlich der “Junggesellen der Erinnerung” war hellseherisch, allerdings Hellseherei unter sehr günstigen Voraussetzungen. Die Ähnlichkeit mit O. R. ist aber noch darüber hinaus verblüffend: beide still (ich weniger) beide von den Eltern abhängig (ich mehr) mit dem Vater verfeindet, von der Mutter geliebt (er noch zu dem schrecklichen Zusammenleben mit dem Vater verurteilt, freilich auch der Vater verurteilt) beide schüchtern überbescheiden (er mehr) beide als edle gute Menschen angesehn wovon bei mir nichts und meines Wissens auch bei ihm nicht viel zu finden war (Schüchternheit, Bescheidenheit, Ängstlichkeit gilt als edel und gut, weil sie den eigenen expansiven Trieben wenig Widerstand entgegensetzt) beide zuerst hypochondrisch, dann wirklich krank, beide als Nichtstuer von der Welt ziemlich gut erhalten (er, weil er ein kleinerer Nichtstuer war, viel schlechter erhalten, soweit man bis jetzt vergleichen kann) beide Beamte (er ein besserer) beide allereinförmigst lebend ohne Entwicklung jung bis zum Ende, richtiger als jung ist der Ausdruck konserviert, beide nahe am Irrsinn, er, fern von Juden, mit ungeheuerem Mut, mit ungeheuerer Sprungkraft (an der man die Größe der Irrsinnsgefahr ermessen kann) in der Kirche gerettet, bis zum Ende noch, soweit man sehen konnte, lose gehalten, er selbst hielt sich wohl schon Jahre lang nicht. Ein Unterschied zu seinen Gunsten oder Ungunsten war, daß er eine kleinere künstlerische Begabung hatte als ich, also in der Jugend einen bessern Weg hätte wählen können, nicht so zerrissen war, auch durch Ehrgeiz nicht. Ob er um Frauen (mit sich) gekämpft hat, weiß ich nicht, eine Geschichte die ich von ihm gelesen habe, deutete daraufhin, auch erzählte man, als ich ein Kind war, etwas dergleichen. Ich weiß viel zu wenig von ihm, danach zu fragen wage ich nicht. Übrigens schrieb ich bis hierher leichtsinnig über ihn wie ber einen Lebenden. Es ist auch unwahr, daß er nicht gut war, ich habe an ihm keine Spur von Geiz, Neid, Haß, Gier bemerkt; um selbst helfen zu können, war er wahrscheinlich zu gering. Er war unendlich viel unschuldiger als ich, hier gibt es keinen Vergleich. Er war in Einzelnheiten eine Karrikatur von mir, im Wesentlichen aber bin ich seine Karrikatur.
23. (Januar 1922) Wieder kam Unruhe. Woher?Aus bestimmten Gedanken, die schnell vergessen werden, aber die Unruhe unvergeßlich hinterlassen. Eher als die Gedanken könnte ich den Ort angeben, wo sie kamen, einer z. B. auf dem kleinen Rasenweg, der an der Altneusynagoge vorüberfährt. Auch Unruhe aus einem gewissen Wohlbehagen, das hie und da scheu und fern genug sich näherte. Unruhe auch daraus, daß der nächtliche Entschluß nur Entschluß bleibt. Unruhe daraus, daß mein Leben bisher ein stehendes Marschieren war, eine Entwicklung höchstens in dem Sinn, wie sie ein hohlwerdender, verfallender Zahn durchmacht. Es war nicht die geringste sich irgendwie bewährende Lebensführung von meiner Seite da. Es war so als wäre mir wie jedem andern Menschen der Kreismittelpunkt gegeben, als hätte ich dann wie jeder andere Mensch den entscheidenden Radius zu gehn und dann den schönen Kreis zu ziehn. Statt dessen habe ich immerfort einen Anlauf zum Radius genommen, aber immer wieder gleich ihn abbrechen müssen (Beispiele: Klavier, Violine, Sprachen, Germanistik, Antizionismus, Zionismus, Hebräisch, Gärtnerei, Tischlerei, Litteratur, Heiratsversuche, eigene Wohnung) Es starrt im Mittelpunkt des imaginären Kreises von beginnenden Radien, es ist kein Platz mehr für einen neuen Versuch, kein Platz heißt Alter, Nervenschwäche, und kein Versuch mehr bedeutet Ende. Habe ich einmal den Radius ein Stückchen weitergeführt als
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