Tagebücher: 1909-1923
Gedanken der Überwindung zu spielen) wohl aber die Gelegenheit benutzen (aber nicht zu klagen, wenn sie nicht kommt) Freilich es gibt ein Mittelding zwischen der “Tat” und der “Gelegenheit” nämlich das Herbeiführen, Herbeilocken der “Gelegenheit”, eine Praxis, die ich nicht nur hier sondern überall leider befolgt habe. Aus dem “Gesetz” ist kaum etwas dagegen zu sagen, trotzdem dieses “Herbeilocken” besonders wenn es mit untauglichen Mitteln geschieht bedenklich ähnlich sieht dem “Spielen mit dem Gedanken der Überwindung” und von ruhender, offenblickender Furchtlosigkeit ist darin keine Spur. Es ist eben trotz “wörtlicher” Übereinstimmung mit dem “Gesetz” etwas Abscheuliches und unbedingt zu Vermeidendes. Freilich Zwang gehört dazu es zu vermeiden und zu einem Ende komme ich damit nicht.
19 (Januar 1922) Was bedeuten die gestrigen Feststellungen heute? Bedeuten das Gleiche wie gestern, sind wahr, nur daß das Blut in den Rinnen zwischen den großen Steinen des Gesetzes versickert.
Das unendliche tiefe warme erlösende Glück neben dem Korb seines Kindes zu sitzen der Mutter gegenüber.
Es ist auch etwas darin von dem Gefühl: es kommt nicht mehr auf Dich an, es sei denn daß Du es willst. Dagegen das Gefühl des Kinderlosen: immerfort kommt es auf Dich an ob Du willst oder nicht, jeden Augenblick bis zum Ende, jeden nervenzerrenden Augenblick, immerfort kommt es auf Dich an und ohne Ergebnis. Sisyphus war ein Junggeselle.
Nichts Böses; hast Du die Schwelle überschritten, ist alles gut. Eine andere Welt und Du mußt nicht reden.
Die zwei Fragen:
Ich hatte aus einigen Kleinigkeiten, die anzuführen ich mich schäme, den Eindruck, daß die letzten Besuche zwar lieb und stolz wie immer waren, aber doch auch etwas müde, etwas gezwungen, wie Krankenbesuche. Ist der Eindruck richtig?
Hast Du in den Tagebüchern etwas Entscheidendes gegen mich gefunden?
20 (Januar 1922) Ein wenig stiller. Wie notwendig war es. Kaum ist es ein wenig stiller, ist es fast zu still. Als bekäme ich das wahre Gefühl meiner Selbst nur wenn ich unerträglich unglücklich bin. Das ist wohl auch richtig.
Beim Kragen gepackt, durch die Straßen gezerrt, in die Tür hineingestoßen. Schematisch ist es so, in Wirklichkeit sind Gegenkräfte da, nur um eine Kleinigkeit – die leben- und qualerhaltende Kleinigkeit – weniger wild als jene. Ich der beiden Opfer.
Dieses “zustill”. So als wäre mir – irgendwie körperlich, körperlich als Ergebnis der jahrelangen Qualen (Vertrauen! Vertrauen!) – die Möglichkeit des ruhig schaffenden Lebens verschlossen, also das schaffende Leben überhaupt, denn der Zustand der Qual ist für mich ohne Rest nichts anders als in sich verschlossene, gegen alles verschlossene Qual, nichts darüber hinaus.
Das Torso: seitlich gesehn vom obern Rand des Strumpfes aufwärts Knie, Oberschenkel und Hüfte, einer dunklen Frau gehörig.
Die Sehnsucht nach dem Land? Es ist nicht gewiß. Das Land schlägt die Sehnsucht an, die unendliche.
M. hat hinsichtlich meiner recht: “alles herrlich nur nicht für mich und mit Recht. ” Mit Recht sage ich und zeige daß ich wenigstens dieses Vertrauen habe: Oder habe ich nicht einmal das? Denn ich denke nicht eigentlich an “Recht”, das Leben hat vor lauter Überzeugungskraft keinen Platz in sich für Recht und Unrecht. So wie Du in der verzweifelten Sterbestunde nicht über Recht und Unrecht meditieren kannst, so nicht im verzweifelten Leben. Es genügt daß die Pfeile genau in die Wunden passen, die sie geschlagen haben.
Dagegen ist von einem allgemeinen Aburteil über die Generation bei mir keine Spur.
21 (Januar 1922) Es ist noch nicht zu still. Plötzlich im Teater angesichts des Gefängnisses Florestans öffnet sich der Abgrund. Alles, Sänger, Musik, Publikum, Nachbarn, alles ferner als der Abgrund.
So schwer war die Aufgabe niemandes, soviel ich weiß. Man könnte sagen: es ist keine Aufgabe, nicht einmal eine unmögliche, es ist nicht einmal die Unmöglichkeit selbst, es ist nichts, es ist nicht einmal soviel Kind, wie die Hoffnung einer Unfruchtbaren. Es ist aber doch die Luft, in der ich atme, solange ich atmen soll.
Ich schlief nach Mitternacht ein, erwachte um 5, eine außergewöhnliche Leistung, außergewöhnliches Glück, außerdem war ich noch schläfrig. Das Glück war aber mein Unglück, denn nun kam der nicht abzuwehrende Gedanke: soviel Glück verdienst Du
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