Tagebücher: 1909-1923
Stadt.
Fünf Monate sagte ich so vorsichtig daß ich nachher noch den Mund offen behielt.
Darin kannst Du Dich eben mit mir nicht vergleichen. Daß ich Dir das aber erst sagen muß! Spürst Du es denn, wenn Du acht gibst, nicht schon an Deinem Muth? Wie lange bist Du eigentlich schon in der Stadt?
Und diese Morgen, man schaut aus dem Fenster, zieht den Sessel vom Bett und setzt sich zum Kaffee. Und diese Abende man stützt den Arm auf und hält mit der Hand das Ohr. Ja wenn das nur nicht alles wäre! Wenn man doch wenigstens ein paar neue Gewohnheiten annähme, wie sie hier in den Gassen jeden Tag zu sehen sind
Julius Schnorr von Karolsfeld na Zeichnung Friedrich Olivier, er zeichnet auf einem Abhang wie schön und ernst ist er da (ein hoher Hut wie eine abgeplattete Clownmütze mit steifem ins Gesicht gehendem schmalen Rand, gewellte lange Haare, Augen nur für sein Bild, ruhige Hände, die Tafel auf den Knien, ein Fuß ist auf der Böschung ein wenig tiefer gerutscht.)
aber nein das ist Friedrich Olivier von Schnorr gezeichnet
An mich also darfst Du jetzt nicht denken. Wie willst Du Dich auch mit mir vergleichen. Ich bin ja schon über 20 Jahre hier in der Stadt. Stellst Du Dir auch nur richtig vor was das ist. Zwanzigmal habe ich jede Jahreszeit hier verbracht –
Jetzt schüttelte er die lose Faust über unseren Köpfen.
Die Bäume hier sind zwanzig Jahre lang hinaufgewachsen, wie klein sollte man unter ihnen werden. Und diese vielen Nächte, weißt Du, in allen den Wohnungen. Einmal liegt man an dieser, einmal an jener Mauer, so wandert das Fenster um einen herum. Und diese Morgen,
Ich bin ja nahe daran. Schon schien sich mein schützendes Wesen hier in der Stadt aufzulösen, ich war schön in den ersten Tagen denn diese Auflösung geschieht als eine Apotheose, wo alles was uns am Leben erhält uns entfliegt, aber noch im Entfliegen uns mit seinem menschlichen Licht zum letztenmal bestrahlt. So stehe ich vor meinem Junggesellen und er liebt mich deshalb höchstwahrscheinlich, ohne sich aber darüber klar zu sein warum. Gelegentlich scheinen seine Reden darauf zu deuten, daß er sich auskennt, daß er weiß, wen er vor sich hat und daß er sich deshalb alles erlauben darf. Nein, so ist es aber nicht. In dieser Weise würde er vielmehr jedem entgegentreten, denn er kann nur als Einsiedler oder als Schmarotzer leben. Er ist nur Einsiedler aus Zwang, wird dieser Zwang einmal durch ihm unbekannte Kräfte wie in diesem Falle berwunden, schon ist er Schmarotzer, der sich frech anhält wie er nur kann. Retten kann ihn allerdings nichts mehr auf der Welt und so kann man bei seinem Benehmen an die Leiche eines Ertrunkenen denken, die durch irgend eine Strömung an die Oberfläche getrieben an einen müden Schwimmer stößt, die Hände an ihn legt und sich festhalten möchte. Die Leiche wird nicht lebendig ja nicht einmal geborgen werden, aber den Mann kann sie hinunterziehn
An mich also darfst Du jetzt nicht denken. Es ist angenehm, ich weiß es, in einer fremden Stadt sich einem Mann, den man für erfahren hält, ein für alle Mal gleichzusetzen
An mich also darfst Du jetzt nicht denken.
10 Uhr 15. November 1910 Ich werde mich nicht müde werden lassen. Ich werde in meine Novelle hineinspringen und wenn es mir das Gesicht zerschneiden sollte.
16 Nov. (1910) 12 Uhr Ich lese Iphigenie auf Tauris. Darin ist wirklich von einzelnen offen fehlerhaften Stellen abgesehen die ausgetrocknete deutsche Sprache im Munde eines reinen Knaben förmlich anzustaunen. Jedes Wort wird von dem Vers vor dem Lesenden im Augenblick des Lesens auf die Höhe getragen, wo es in einem vielleicht magern aber durchdringenden Lichte steht.
27 (November 1910) Bernhard Kellermann hat vorgelesen: einiges ungedruckte aus meiner Feder, so fieng er an. Scheinbar ein lieber Mensch, fast graues stehendes Haar, mit Mühe glatt rasiert, spitze Nase, über die Backenknochen geht das Wangenfleisch oft wie eine Welle auf und ab. Er ist ein mittelmäßiger Schriftsteller mit guten Stellen (ein Mann geht auf den Korridor hinaus, hustet und sieht herum, ob niemand da ist) auch ein ehrlicher Mensch, der lesen will, was er versprochen hat, aber das Publikum ließ ihn nicht, aus Schrecken über die erste Nervenheilanstaltgeschichte, aus Langweile über die Art des Vorlesens giengen die Leute trotz schlechter Spannungen der Geschichte immerfort einzeln weg mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde. Als er nach dem
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