Tagebücher 1909-1923
und genau untersucht, Popper getroffen) eine reinere Vorstadt.
Abend im Kaffeehaus, lauter Civilisten, Einwohner von Ujhel, einfache und doch fremdartige, zum Teil verdächtige Leute, verdächtig nicht weil Krieg ist sondern weil sie unverständlich sind. Ein Feldkurat liest allein Zeitungen. – Vormittag der junge schöne deutsche Soldat im Gasthaus. Läßt sich viel auftragen, raucht eine dicke Cigarre, schreibt dann. Scharfe strenge aber jugendliche Augen, klares regelmäßiges glattrasiertes Gesicht.
Zieht dann den Tornister an. Habe ihn später, vor jemandem salutierend, noch wiedergesehn weiß aber nicht wo.
3 V (1915) Vollständige Gleichgültigkeit und Stumpfheit. Ein ausgetrockneter Brunnen, Wasser in unerreichbarer Tiefe und dort ungewiß. Nichts, nichts. Verstehe das Leben in "Entzweit"
von Strindberg nicht; was er schön nennt widert mich in Beziehung zu mir gesetzt, an. Ein Brief an F., falsch, nicht wegschickbar. Was hält mich für eine Vergangenheit oder Zukunft. Die Gegenwart ist gespenstisch, ich sitze nicht am Tisch, sondern umflattere ihn. Nichts, nichts. Öde, Langweile, nein nicht Langweile nur Öde, Sinnlosigkeit, Schwäche. Gestern in Dobrichowitz.
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4 V (1915) Besserer Zustand weil ich Strindberg (Entzweit) gelesen habe. Ich lese ihn nicht um ihn zu lesen sondern um an seiner Brust zu liegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem linken Arm. Ich sitze dort wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr abzugleiten, beim elften Versuch sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht.
Überlegung des Verhältnisses der andern zu mir. So wenig ich sein mag, niemand ist hier, der Verständnis für mich im Ganzen hat. Einen haben der dieses Verständnis hat, etwa eine Frau, das hieße Halt auf allen Seiten haben, Gott haben. Ottla versteht manches, sogar vieles, Max, F. manches, manche wie E.
verstehn nur einzelnes, aber dieses mit abscheulicher Intensität, F. versteht vielleicht gar nichts das gibt allerdings hier, wo unleugbare innere Beziehung ist, eine große Sonderstellung.
Manchmal glaubte ich, daß sie mich verstehe, ohne daß sie es wußte z. B. als sie mich, damals als ich mich unerträglich nach ihr sehnte, in der Untergrundbahnstation erwartete, ich in meiner Sucht nur möglichst rasch zu ihr zu kommen, die ich oben vermutete, an ihr vorüberlaufen wollte und sie mich still bei der Hand ergriff.
5. V (1915) Nichts, dumpfer leicht schmerzender Kopf.
Nachmittag Choteksche Anlagen, Strindberg gelesen, der mich nährt.
Das langbeinige schwarzäugige gelbhäutige kindliche Mädchen, lustig frech und lebhaft. Sieht eine kleine Freundin, die den Hut in der Hand trägt. "Hast Du zwei Köpfe?" Die Freundin versteht gleich den an sich sehr matten aber durch die Stimme und das Einsetzen der ganzen kleinen Person lebendigen Scherz. Lachend erzählt sie ihn einer zweiten Freundin, die sie paar Schritte weiter trifft: "Sie hat mich gefragt, ob ich zwei Köpfe habe! "
Früh Frl. R. getroffen. Eigentlich ein Abgrund von Häßlichkeit, so verändern kann sich ein Mann nicht. Plumper Körper, wie noch vom Schlafe her gelöst; die alte Jacke die ich
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kenne; was sie unter der Jacke trägt, ist ebenso unkenntlich als verdächtig, vielleicht nur das Hemd; es ist ihr offenbar auch unheimlich in diesem Zustand getroffen zu werden, aber sie tut etwas Falsches, statt den Ort der Verlegenheit zu verbergen, greift sie wie schuldbewußt in den Jackenausschnitt, zieht die Jacke zurecht. Starker Bartanflug auf der Oberlippe, aber nur an einer Stelle, ausgesucht häßlicher Eindruck. Trotz allem gefällt sie mir sehr gut auch im zweifellos häßlichen, überdies ist die Schönheit ihres Lächelns unverändert, die Schönheit der Augen hat durch die Herabminderung des Ganzen gelitten. Im brigen sind wir durch Erdteile getrennt, ich verstehe sie gewiß nicht, aber ahne sie, sie dagegen begnügt sich mit dem ersten oberflächlichsten Eindruck, den sie von mir erhalten hat. In aller Unschuld bittet sie um eine Brotkarte.
Abend ein Kapitel der Neuen Christen gelesen
Der alte Vater und die ältliche Tochter. Er verständig spitzbärtig, schwach gebeugt, ein Stöckchen am Rücken. Sie breitna sig, mit starkem Unterkiefer, rundes aber zerbäultes Gesicht, dreht sich schwer in ihren breiten Hüften. " Sie sagen ich sehe schlecht aus. Ich sehe doch nicht schlecht aus. "
14. V (1915) Aus aller Regelmäßigkeit des Schreibens gekommen. Viel im Freien. Spaziergang mit Frl. Stein
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