Tagebücher 1909-1923
könne plötzlich hervorspringen. Dieses "etwas" das er nicht näher beschreiben konnte, habe er zunächst erwarten wollen, ehe er vorwärtsgieng. Da aber der Frau soviel daran zu liegen schien zum zweiten Bett zu kommen, gab er schließlich nach.
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Heft 11
13 Sept. 15 Vorabend von Vaters Geburtstag, neues
Tagebuch. Es ist nicht so notwendig wie sonst, unruhig muß ich mich nicht machen, unruhig bin ich genug, aber zu welchem Ziel, wann kommt es, wie kann ein Herz, ein nicht ganz gesundes
Herz soviel Unzufriedenheit und soviel
ununterbrochen zerrendes Verlangen ertragen.
Die Zerstreutheit, die Gedächtnisschwäche, die Dummheit!
14. (September 1915) mit Max und Langer Samstag beim Wunderrabbi. Pizkov, Harantova ulice. Viele Kinder auf dem Trottoir und den Treppenstufen. Ein Gasthaus. Oben vollständig finster, blindlings paar Schritte mit vorgehaltenen Händen. Ein Zimmer mit bleichem Dämmerlicht, weißgraue Wände, einige kleine Frauen und Mädchen, weiße Kopftücher, blasse Gesichter, stehn herum, kleine Bewegungen; Eindruck des Blutleeren. Nächstes Zimmer. Alles schwarz, voll mit Männern und jungen Leuten. Lautes Beten. Wir drücken uns in eine Ecke.
Kaum sehen wir uns ein wenig um, ist das Gebet zu Ende, das Zimmer leert sich. Ein Eckzimmer mit zwei Fensterwänden mit je 2 Fenstern. Wir werden zu einem Tisch gedrängt, rechts vom Rabbi. Wir wehren uns, "Ihr seid doch auch Juden. " Das stärkste väterliche Wesen macht den Rabbi. Alle Rabbi sehen wild aus, sagte Langer. Dieser im Seidenkaftan, darunter schon Unterhosen sichtbar. Haare auf dem Nasenrücken. Mit Fell eingefaßte Kappe, die er immerfort hin und her rückt. Schmutzig und rein, Eigentümlichkeit intensiv denkender Menschen. Kratzt sich am Bartansatz, schneuzt durch die Hand auf den Fußboden, greift mit den Fingern in die Speisen – wenn er aber ein Weilchen die Hand auf dem Tisch liegen läßt, sieht man das Weiß der Haut, wie man ein ähnliches Weiß nur in
Vorstellungen der Kindheit gesehn zu haben glaubt. Damals allerdings waren auch die Eltern rein.
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16. (September 1915) Demütigung bei Eisner. Erste Zeile eines Briefes an ihn geschrieben, weil sich mir im Kopf rasch ein würdiger Brief gebildet hatte. Trotzdem nach der ersten Zeile abgelassen. Früher war ich anders. Wie leicht ich außerdem die Demütigung getragen, wie leicht ich an sie vergessen habe, wie wenig Eindruck auch seine Gleichgültigkeit auf mich gemacht hat. Durch tausend Gänge, tausend Bureaux, an tausend früher befreundeten jetzt kalten Menschen hätte ich unberührt schweben können, ohne die Augen zu senken.
Unberührbar aber auch unerweckbar. Und in dem einen Bureau hätte Max sitzen können, im andern Felix u. s. f.
Neuer Kopfschmerz noch unbekannter Art. Kurzer
schmerzhafter Stich rechts ber dem Auge. Vormittag zum erstenmal seitdem häufiger.
Anblick der polnischen Juden, die zum Kol Nidre gehn. Der kleine Junge, der, unter beiden Armen Gebetmäntel, neben seinem Vater herläuft. Selbstmörderisch nicht in den Tempel zu gehn.
Bibel aufgeschlagen. Von den ungerechten Richtern. Finde also meine Meinung oder wenigstens die Meinung die ich in mir bisher vorgefunden habe. Übrigens hat es keine Bedeutung, ich werde in solchen Dingen niemals sichtbar gelenkt, vor mir flattern nicht die Blätter der Bibel.
Die ergiebigste Stelle zum Hineinstechen scheint zwischen Hals und Kinn zu sein. Man hebe das Kinn und steche das Messer in die gestrafften Muskeln. Die Stelle ist aber wahrscheinlich nur in der Vorstellung ergiebig. Man erwartet dort ein großartiges Ausströmen des Blutes zu sehn und ein Flechtwerk von Sehnen und Knöchelchen zu zerreißen, wie man es ähnlich in den gebratenen Schenkeln von Truthähnen findet.
Förster Fleck in Rußland gelesen. Napoleons Rückkehr auf das Schlachtfeld von Borodino. Das Kloster dort. Es wird in die Luft gesprengt.
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28 IX 15 Vollständiges Nichtstun. Memoiren des Generals Marcellin de Marbot und Holzhausen "Leiden der Deutschen 1812"
Sinnlosigkeit des Klagens. Als Antwort darauf Stiche im Kopf.
Ein kleiner Junge lag in der Badewanne. Es war das erste Bad, bei dem seinem alten Wunsche nach, weder die Mutter noch das Dienstmädchen zugegen waren. Er hatte sich um dem Befehl der Mutter, die ihm hier und da aus dem Nebenzimmer zurief zu entsprechen, mit dem Schwamm flüchtig bestrichen; dann hatte er sich ausgestreckt und genoß die Unbeweglichkeit im heißen Wasser. Die Gasflamme summte
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